Der Alleskönner

Der Löffel ist das älteste Esswerkzeug – in unserer persönlichen Geschichte wie in jener der Menschheit. Er ist der Diplomat unter den Bestecken und beeinflusst die Sinneswahrnehmung beim Essen stark. Das ist Gastronomen zu wenig bewusst.
Text: Virginia Nolan – Fotos: Jouwstore / Steinbeisser
Veröffentlicht: 12.06.2018 | Aus: Salz & Pfeffer 4/2018
Künstlerin: Gabi Veit, Italien

«Er ist das einzige wirklich notwendige Essbesteck.»

Einst war es die hohle Hand, die dem Menschen das Essen und Trinken erleichterte. Ihr nachempfunden sind die ersten Löffel aus der Jungsteinzeit, geschnitzt aus Holz und Knochen. Flüssiges rann uns fortan nicht mehr durch die Finger, sondern machte einen Umweg über den Löffel, an dem der Mund ansetzte. Dieses zuweilen geräuschvolle Unterfangen hat dem Gerät vermutlich seinen Namen eingetragen: Das altdeutsche «leffil» leitet sich nämlich von «laffan» ab, dem Verb für «schlürfen».

Im alten Rom gabs den Löffel in zwei Versionen. Das Cochlear, abgeleitet von «kochlos», dem griechischen Wort für «Schnecke», war kleiner und hatte mehrere Funktionen. Die Löffelschale war für Flüssigkeiten gedacht, während sich mit dem spitzen Stiel Eier öffnen oder eben Schnecken aufspiessen liessen. Mit der Ligula, einem grossen Löffel, assen die Römer Getreidebrei. Löffel aus Bronze waren Begüterten vorbehalten, während sich der kleine Mann mit einer Version aus Holz begnügen musste.

Wie die Gabel den Löffel verdrängte
Höhlenmenschen und die alten Römer sind Geschichte, was blieb, ist der Löffel. «Er ist das einzige wirklich notwendige Essbesteck», sagt Martin Hablesreiter. Der Wiener, ursprünglich Architekt, erforscht Form und Funktion von Esswaren und Tischgeräten. «Was die Gabel kann, lässt sich auch mit den Fingern erledigen», sagt er, «das sehen wir in vielen Teilen der Welt. Auch das Messer ist nur in Europa ein dauerpräsenter Tischbegleiter. In den USA etwa wird es weggelegt, sobald das Fleisch geschnitten ist.»

Obwohl multifunktional und in allen Kulturen vertreten, sei der Löffel heute das Stiefkind in der europäischen Bestecktrilogie. «In der Spitzengastronomie spielt er bloss noch eine Nebenrolle», bedauert Hablesreiter, «selbst für Saucen ist die Gabel da, weil es sich nicht schickt, mit dem Löffel zu essen.» Hablesreiter erklärt diese Entwicklung mit Assoziationen, die der Löffel weckt: «Er erinnert an Babykost und Altersheim – ans Gefüttertwerden. Darum halten wir lieber eine Gabel in der Hand.»

Völlig absurd sei das, sagt der Food-Designer, denn wer auf den Löffel und seine grosszügige Ladefläche verzichte, nehme sensorische Einbussen in Kauf. So zeigten wissenschaftliche Untersuchungen, dass es die Textur des Essens sei, die zum Feuerwerk der Sinne im Gaumen den Löwenanteil beitrage. Nicht umsonst habe unsere Esskultur Lebensmittel wie Fladenbrot oder hohle Teigwaren hervorgebracht. «Wie der Löffel ermöglichen sie uns, eine Vielzahl verschiedener Konsistenzen auf einmal aufzunehmen», erklärt Hablesreiter, «das steigert das Sinneserlebnis im Mund.»

Alles aufs Mal, das liebt der Gaumen
Aus diesem Grund gibt Peter Knogl dem Löffel wenn immer möglich den Vorzug. Im Basler Restaurant Cheval Blanc serviert der Drei-Sterne-Koch 90 Prozent aller Gerichte mit dem Löffel. «Der Löffel», sagt Knogl, «bringt alle Geschmacksrichtungen gleichzeitig in den Mund. Mit der Gabel klappt das nicht.» Er sei schweizweit der erste Koch gewesen, der selbst zu Fisch einen Löffel gereicht habe, sagt Knogl. «Die Leute mussten sich umgewöhnen, merkten aber schnell, dass Essen so mehr Spass macht.» Da, wo mit der Gabel hantiert werde, blieben Püree, Jus oder Sauce auf dem Teller zurück. «Das ist schade», sagt Knogl, der saubere Teller retour bekommt, seit er seinem Faible für den Löffel freien Lauf lässt.

Künstler: Nils Hint, Estland
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Künstlerin: Gabi Veit, Italien
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Künstler: Stuart Cairns, Irland
Künstler: Stuart Cairns, Irland

In der Frage, wie Tischwerkzeuge unsere Sinneseindrücke beim Essen beeinflussen, ist Martin Kullik Experte. Bekannt wurde der Kurator für experimentelle Gastronomie mit dem Projekt Steinbeisser, das Kunst und Kulinarik zusammenbringt. An ihren Tafelrunden rücken Kullik und sein Partner Jouw Wijnsma nicht nur das Essen in den Vordergrund, sondern auch Gerätschaften, die das Duo von Künstlern gestalten lässt. Gäste erhalten unter anderem Chirurgenbesteck, Schraubenschlüssel, Kleiderbügelhaken oder Holzmuscheln als Besteck – so will Kullik den Akt des Essens entschleunigen und zum Nachdenken über Gewohnheiten anregen.

Materialeffekte geschickt nutzen
«Mit Messer und Gabel schneiden und stechen wir», sagt Kullik. «Beides ist aggressiv konnotiert.» Der Löffel hingegen sei der Diplomat unter den Bestecken: «Leicht rundlich und stets aufnahmebereit, agiert er als argloser Vermittler zwischen Mensch und Speise.» Sein Fassungsvermögen und das unkomplizierte Handling machten den Löffel aber auch zum perfekten Partner für Fast Food, sagt Kullik: «Da lässt sich in kurzer Zeit viel reinschaufeln.» Experimente zur Genussentschleunigung seien daher gerade im Zusammenhang mit dem Löffel interessant.

Neu gedacht hat ihn etwa die Künstlerin Joo Hyung Park. Die Südkoreanerin kreierte für Steinbeisser verschiedene Löffel aus Holz. Einige Stücke haben weder Anfang noch Ende, sie bestehen aus fliessenden Formen, die einer ausgewaschenen Muschel oder einem verwitterten Ast gleichen. Sie bieten mehrere Hohlräume und Vertiefungen, der Gast kann selbst entscheiden, wie er das Stück einsetzt. «Dieses Experimentieren mit der Gerätschaft», sagt Kullik, «fördert auch die Auseinandersetzung mit dem Geschmack.»

Und der lässt sich variieren – eben zum Beispiel mit der Wahl eines entsprechenden Löffels. Exemplare aus Gold, weiss Kullik, sind geschmacksneutral, weil das Material nicht oxidiert: «Nicht umsonst wird Eis professionell auf Goldlöffeln verkostet.» Silber hingegen reagiert schneller mit Sauerstoff, was der Gaumen mit der charakteristischen metallischen Note quittiert. Am stärksten ist diese Wirkung bei Bronze. «Solche Effekte gelten gemeinhin als unerwünscht», sagt Kullik, «können aber den Eigengeschmack eines Gerichtes toll unterstreichen.» So intensiviere eine leicht metallische Note etwa das Aroma von Wurzelgemüsen wie Rande.

Blau für salzig, Gold für süss
Auch der Holzlöffel bietet je nach Sorte und Verarbeitung ein grosses Spektrum an Sinneserfahrungen. «Legiertes Holz ist praktisch geschmacksneutral», sagt Kullik, «während poriges, leicht geöltes Material eine warme, erdige Note entwickelt, sobald es mit Flüssigkeiten in Kontakt kommt. Gerade in der asiatischen Küche, die eher mit frischen Aromen arbeitet, ist dieser Kontrast interessant.»

Spannend seien auch Experimente mit angebrannten Holzlöffeln, die das Gericht mit einem Holzkohlegeschmack abrundeten. Weil das Auge mitisst, haben nicht nur Material und Form von Tischgeräten, sondern auch ihre Farbe Einfluss auf unser Geschmacksempfinden, weiss Kullik. Wissenschaftliche Versuche hätten zum Beispiel gezeigt, dass Blau das Salzempfinden um bis zu einem Drittel verstärke. Gleiches bewirke Gold bei der Wahrnehmung von Süsse.

Das simpelste aller Tischgeräte begleitet uns täglich, von der Wiege bis zur Bahre, auf der wir ihn bekanntlich wieder abgeben, den Löffel. Bis dahin sollten wir anfangen, sein Potenzial besser zu nutzen, findet Kullik. «Über das Besteck kann der Koch den Gast ein Stück weit steuern», sagt er: «Soll er langsam essen, nur kleine Bissen? Soll er süsse Noten verstärkt wahrnehmen oder salzige? Auf all das hat die Wahl des Bestecks Einfluss.» Esswerkzeuge verlängerten unsere Hände und letztlich auch unseren Mund, entsprechend beeinflussten sie unsere sinnliche Wahrnehmung. Dieses Potenzial sei Köchen noch zu wenig bewusst, so Kullik: «Da passiert ganz viel auf dem Teller, aber wenig bis gar nichts ausserhalb. Ich denke, das wird sich bald ändern.»

Neu gedacht
Warum essen wir so, wie wir es tun? Und gehts auch anders? Mit diesen Fragen beschäftigen sich Jouw Wijnsma und Martin Kullik alias Steinbeisser. Im Rahmen ihrer Eventreihe Experimentelle Gastronomie, bei der Künstler und Spitzenköche aufeinandertreffen, erforschen sie neue Wege, um bewusst zu essen. Die nächste Experimentelle Gastronomie findet am 19. und 20. September in den Basler Merian-Gärten statt: Der in Italien beheimatete japanische Sterne-Koch Yoji Tokuyoshi kreiert ein rein pflanzliches Menü. Weitere Infos gibts online.

Ebenfalls online findet sich im Jouwstore von Steinbeisser überraschendes Geschirr und Besteck. Die Unikate stammen von Künstlern, die Sinn und Zweck der Esswerkzeuge hinterfragten und Alternativen entwickelten, die mit den Konventionen brechen. Die Fotos in diesem Artikel zeigen eine Auswahl dieser Werke.

www.steinbeisser.orgwww.jouwstore.com



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