«Fehler sind kein Beleg für schlechte Arbeit»

Wer in der Gastronomie arbeitet, bekommt beim Gedanken an Mystery-Checks weiche Knie. Warum gute Tester keine Mitarbeiter zerpflücken und was sie dem Gastgeber bringen, weiss Kurt Schempp von der Feuerzeichen GmbH.
Interview: Virginia Nolan – Fotos: Njazi Nivokazi
Veröffentlicht: 22.11.2018 | Aus: Salz & Pfeffer 8/2018

«Ein Klassiker ist der versäumte Nachverkauf.»
Sie bieten unter anderem Mystery-Checks für Restaurants und Hotels an. Welche Art von Betrieb engagiert verdeckte Tester, um seiner Brigade auf den Zahn zu fühlen?

Kurt Schempp:
Beim Mystery-Check werden nicht Mitarbeiter überprüft, sondern Abläufe. Das Ziel ist es, den Betrieb als Ganzes voranzubringen, da dienen Leistungsbewertungen für Einzelpersonen weder der Sache noch dem Team. Im Bereich Gastronomie sind unsere Kunden meist Restaurantketten oder Betriebsgruppen. Sie engagieren uns, weil sie wissen möchten, ob das, was sie sich auf die Flagge schreiben, beim Gast ankommt, ob er ihre Philosophie überhaupt wahrnimmt. Es geht darum, das eigene Profil im Markt zu schärfen – und über diesen Weg den Umsatz zu steigern. Mit der Individualgastronomie haben wir es in diesem Bereich kaum zu tun.

Warum nicht?
Weil es kleineren Betrieben an Ressourcen mangelt. Erstens setzen Konzepte, die von A bis Z wasserdicht daherkommen sollen, hohe Marketingkosten voraus. Zweitens funktionieren sie nur mit einem wirksamen Qualitätsmanagement – dafür bringt ein einziger Check nicht viel. Damit der Betrieb Handlungsbedarf orten und Verbesserungsmassnahmen überprüfen kann, sind wiederholte Tests und Schulungen nötig.

Was ist mit weniger finanzstarken Gastronomen, die ihren Betrieb einmal unter der Lupe sehen wollen?
Auch für sie gibt es Möglichkeiten, etwa im Rahmen einer Standortbestimmung. Der sogenannte Mirror-Check ist eine Momentaufnahme mit nachfolgender Schulung. Vorgängig informiert uns der Gastronom, welche Schwerpunkte er bearbeiten will, entsprechend legt der Tester seinen Fokus. Das verlangt nach geschulten Leuten: Wir arbeiten ausschliesslich mit Testern zusammen, die Führungserfahrung in der Gastronomie- oder Dienstleistungsbranche haben. Das Team vor Ort kennt den Tester nicht, weiss aber Bescheid, dass jemand kommt. Für die Schulung bestimmt der Gastgeber wie gesagt selbst die Inhalte, die wir mit dem Team anhand der Testsituation, aber auch allgemein aufgreifen. Das Ziel ist, blinden Flecken im Betrieb auf die Spur zu kommen. Da kämpfen übrigens alle Gastronomen mit ähnlichen Schwächen.

Nämlich?
Rund ein Drittel dieser «Fehler» passieren in der Kommunikation mit dem Gast. Ein Klassiker ist der versäumte Nachverkauf. Beim Mystery-Check hat der Tester unter anderem den Auftrag, während der Vorspeise sein Getränk leer zu trinken. Unsere Auswertungen zeigen, dass der Service in fast 50 Prozent der Fälle nicht nachfragt, ob der Gast noch etwas zu trinken möchte. Die Daten belegen auch, dass ein Drittel dieser Gäste gern ein weiteres Getränk bestellt hätte. Für einen Betrieb, der pro Tag 80 Mittagessen ausgibt, bedeutet dies, dass ihm dadurch 26 zusätzlich verkaufte Softgetränke durch die Lappen gehen. Das rechnet sich. Trotzdem: Solche Fehler sind kein Beleg für schlechte Arbeit.

Sondern?
Sie sind nachvollziehbar. Wenn ich als Servicemitarbeiter an den Tisch komme, ist mein Auge auf den Gast gerichtet und hat automatisch sein Gesicht im Fokus. Das ist ein natürliches Verhalten, wenn wir unserem Gegenüber aufmerksam begegnen wollen. Ich frage, ob es geschmeckt hat, komme ins Gespräch, der Gesichtsfokus bleibt, nebenher räume ich ab – schon wird das leere Glas übersehen. Solche Versäumnisse sind leichter zu vermeiden, wenn wir bewusst auf gewisse Dinge achten. Hier spielt auch die nonverbale Kommunikation eine grosse Rolle.

Was ist dabei wichtig?
Sie sollte einladend sein. Überlegte der Gast rational, würde er sich mit dem Sandwich verpflegen. Ins Restaurant kommt er fast ausschliesslich aus emotionalen Gründen. Als Gastgeber ist es meine Aufgabe, ihn in seiner Entscheidung, sich etwas Gutes zu tun, zu bekräftigen.

Wie mache ich das?
Wir entscheiden innert Sekundenbruchteilen, ob uns das Gegenüber wohlgesinnt ist. Damit wir Nähe herstellen können, muss der Körper Offenheit signalisieren: durch eine aufrechte und im Gespräch leicht nach vorn geneigte Haltung, Lächeln und Blickkontakt etwa. Essen ist eine emotionale Geschichte. Wir verbinden damit Eindrücke, die unser Hirn seit frühester Kindheit abgespeichert hat, und das Gefühl des Umsorgtseins spielt dabei eine zentrale Rolle. Wer denkt, der Gast melde sich von selbst, wenn er etwas brauche, hat das nicht verstanden. In unseren Servicechecks und Coachings spielen solche Themen eine grosse Rolle.

«Der Gast gewichtet das sensorische Erlebnis weniger stark als früher.»
Was sind weitere Prüfkriterien für den Tester?
Dinge, die das Ambiente betreffen: Lichtstimmungen, die Temperatur oder der Geräuschpegel, auch, wie die Toilette daherkommt. In seiner Erinnerung differenziert der Mensch nämlich nicht, welche Eindrücke er in welchem Raum wahrgenommen hat, unser Hirn kumuliert die Dinge zum einem grossen Ganzen, bevor es sie abspeichert. Da nützt es wenig, wenn das Essen in Ordnung, die Erfahrung auf der Toilette aber weniger gut war. Überhaupt tun wir als Gastronomen gut daran, uns ein paar Gedanken über die Funktionsweise unseres Gehirns zu machen.

Erzählen Sie.
Auf uns prasseln unentwegt Informationen ein, pro Sekunde verarbeitet das Gehirn etwa elf Millionen Sinneseindrücke. Davon nehmen wir nur etwa zehn bis 40 bewusst wahr – den Rest blenden wir sozusagen aus. Ohne diese Filterung wären wir komplett überlastet. Dieser Schutzmechanismus hat zum Beispiel auch zur Folge, dass wir den Geruch unserer Wohnung oder anderer Orte, die wir gut kennen, nicht mehr bewusst wahrnehmen. Er ist aber auch der Grund, warum wir irgendwann wortwörtlich betriebsblind werden. Darum ist der gelegentliche Blick von aussen so wichtig.

Den wichtigsten Teil vom Restaurant-Check haben Sie gar noch nicht angesprochen: das Essen.
Das bewerten wir auch. Wir stellen jedoch fest, dass der Gast das sensorische Erlebnis weniger stark gewichtet als früher, weil er dazu nicht mehr so gut in der Lage ist. Dafür ist die Optik in den Vordergrund gerückt. Die Leute kochen heute weniger, ihnen fehlt die Nähe zur Materie, Convenience Food ist weit verbreitet. Moderne Kommunikationsmittel wie das Smartphone verstärken den Fokus aufs Visuelle und machen das Auge zum trainiertesten Sinnesorgan. Heute fungiert es als Hilfe für den Gaumen, etwa so, wie wir zum Kopfrechnen als Stütze das Smartphone beiziehen. Hat das Auge den ersten Eindruck wahrgenommen, wird vermutlich auch der Gaumen nachziehen. Gastronomen sollten also sehr darauf achten, wie ihr Essen daherkommt.

Dafür müssen Sie es im Hinblick auf den Geschmack nicht so genau nehmen?
Oh doch, es empfiehlt sich sogar. Wie ich vorhin erwähnt habe, treten nicht einmal ein Prozent aller aufgenommenen Informationen in unser Bewusstsein, und da fast 90 Prozent der Wahrnehmungen über das Auge erfolgen, wird auf diesem Weg auch am meisten herausgefiltert. Geht es hingegen darum, Impulse gustatorisch zu verarbeiten, bleibt mehr hängen, das heisst, an diese Informationen erinnern wir uns umso besser. Darum denken wir noch heute an die Lieblingsgerichte unserer Kindheit.

Sie realisieren auch Gastro- und Hotelkonzepte. Worauf muss achten, wer erfolgreich sein will?
Wenn ein Betrieb nicht im untersten Preislevel agieren will, muss er Werte haben, die der Gast auch erfährt. Es reicht nicht, mit Schlagworten um sich zu werfen: Regionalität ist so eines – wer schmückt sich heute nicht damit? Was bedeutet es überhaupt? Für mich gehören beim Fokus aufs Lokale zum Beispiel auch das Thema Foodwaste und Bemühungen in dieser Hinsicht dazu. Es geht darum, dem Gast ein konsistentes Erlebnis zu bieten. Dazu gehört auch der sinnliche Aspekt.

Wie meinen Sie das?
Nehmen wir als Beispiel den Weissen Wind, die Zürcher Beiz, die ich übernommen habe. Wir wollen authentisch und transparent, natürlich und ungekünstelt daherkommen. Das beginnt damit, dass wir Gemüsestücke rustikal schneiden und Kräuter nicht fein hacken – der Gast soll bei jedem Bissen wissen, womit er es zu tun hat. Ein anderes Detail: Unsere alten Tische sind abgeschliffen, der Gast soll seine Hände aufs warme Holz legen können, ohne dass Lack dazwischenkommt. Natürlich wird sich niemand bewusst an die unlackierten Holztische erinnern, aber sie tragen zu einem glaubwürdigen Gesamterlebnis bei, das über alle Sinne erfahrbar ist. Gastronomen haben in dieser Hinsicht einen extrem komplexen Job; er setzt so viele unterschiedliche Fähigkeiten voraus, die einer allein unmöglich mitbringen kann.

Was raten Sie?
Interdisziplinäre Partnerschaften sind da vielversprechend. Ich zum Beispiel habe mich im Weissen Wind mit einem Designer zusammengetan, der ebenfalls Teilhaber ist. Er hat für alles, was das Ambiente betrifft, ein viel besseres Auge als ich. Ich kann Gastronomen nur empfehlen, Brücken zu schlagen – es lohnt sich.

Vom Koch zum Consultant
Kurt Schempp ist diplomierter Hotelier, Koch sowie Konditor und Confiseur. Sein Unternehmen Feuerzeichen berät Gastronomie, Hotellerie, Detailhandel und Lebensmittelproduktion in Themen wie Angebotsplanung, Küchentraining oder Verkaufsförderung. Zu seinen Dienstleistungen gehören auch Mystery-Checks sowie die Entwicklung und Realisation von Gastro-, Hotel- und Food-Konzepten. Diesen Oktober ist Schempp selbst unter die Beizer gegangen: Zusammen mit dem Designer Daniel Hunziker führt er in Zürich den Weissen Wind, ein Zunftlokal mit 700-jähriger Geschichte.
www.feuerzeichen.ch



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