19.30 Uhr: Der Portier pfeift ein Taxi herbei, und der Journalist fühlt sich wie in einem jener alten Pariser Schwarzweissfilme, in denen Taxis herausgehobene Rollen spielen. Sieht der Chauffeur nicht aus wie Jean Gabin? Zumindest Gérard Depardieu war schon hier (wie überall, wo es Gutes zu trinken gibt), Catherine Deneuve und klar, ganz früher, Josephine Baker, nach der die Bar benannt wurde.
Seit dem vorletzten Jahr ist auch Gérald Passedat vor Ort, hin und wieder wenigstens, und er ist der Grund für einen zweiten Besuch, zwei Wochen nach dem ersten. Unter den Drei-Sterne-Köchen des Landes ist der Mann, gerade 60 geworden, eher ein Geheimtipp, führt sein Le Petit Nice in Marseille unaufgeregt. Viel Fisch aus Tagesfang, Gemüse aus biologischem Anbau, auch schon mal Aussergewöhnliches wie Seeanemonen. Für 220 Euro bekäme man, unten am Mittelmeer, ein Menü mit allen Fisimatenten. In Paris müsste man mehr bezahlen, wollte man in einem der anderen Palace-Hotels zu Abend essen. Sie pflegen ja die ganz grosse, ganz teure Küche, drüben, auf dem anderen Ufer der Seine und liefern sich ein Wettrennen der Sterne. Zwei sind das Minimum, drei eigentlich Verpflichtung. Im Zweifelsfall wird Alain Ducasse engagiert, der wird es schon richten mit den Auszeichnungen, auf die angeblich alle Gäste Wert legen. Nur das Lutetia spielt da nicht mit – und das hat Tradition. Es galt immer als Ausnahme, als Ort jener, die Stil vors Geld setzten. Understatement war schon in den Zwanzigerjahren angesagt, und dass hier später ausgerechnet der deutsche Geheimdienst seinen Sitz nahm, dass SS-Offiziere in der Bar verkehrten, kann den Parisern niemand vorwerfen. Zum Ausgleich wurde das Hotel später zum Zentrum derer, die ins befreite Paris zurückkehrten. Auch Charles de Gaulle kam zum Essen.
Sterne gibt es also nicht zu bestaunen. Weder drei noch zwei. Nicht mal einen vergibt der Michelin an die beiden Restaurants. Saint-Germain heisst das erste, aber warum es existiert, weiss niemand so recht. Es kann sich nicht entscheiden zwischen grosser Küche und halbgrosser. Gérald Passedats Brasserie dagegen hat Profil, wirkt licht und hoch, besitzt sogar eine coole Sea Bar, an der man dem Muschelöffner auf die Finger schauen kann, ohne sich finanziell zu verausgaben. Sechs Austern vom Utah Beach der Normandie kosten 21 Euro und damit weniger als in einem drittklassigen Bistro in Zürich, die Luxus-Marke Gillardeau ist nur ein paar Euro teurer. Seeigel-Tarama schmeckt gut, und Thunfischtatar wird mit Pommes frites serviert, sofern niemand widerspricht. Dass es keine Seeanemonen gibt, ist zu verschmerzen – die meist ausgebacken servierten Lebewesen schmecken eh gewöhnungsbedürftig. Hauptsache, die Bouillabaisse ist nicht aus. Passedat lässt sie so herstellen, wie sie auch in Marseille längst nicht mehr üblich ist. Saftige Fischfilets und Kaisergranat in einer schicken Schüssel, die Brühe extra, die beste hausgemachte Rouille, die man in Paris finden kann, knusprige Brotscheiben, frisch in Olivenöl geröstet, gehobelter Parmigiano. Ja, 75 Euro. Seis drum. Eine richtige Bouillabaisse kann nicht billig sein und dürfte kaum anderswo in der Metropole in dieser Klasse zu haben sein. Und nur nicht den Pastis zum Apéro vergessen! Falls doch: Hat irgendwer gesagt, dass man Pastis nicht auch als Digestif bestellen könnte? Der Kellner aus der Bar Joséphine würde nicht mal mit den Augenbrauen zucken, so gut ist er geschult. Das Lutetia steht über den Dingen. Darauf ein letztes Glas Taittinger extra brut.
21.52 Uhr. Schaut der Portier nicht so, als kennte er den aus der Schweiz angereisten Gast schon? Hat gewiss ein gutes Gedächtnis. Das Taxi zischt um die Ecke, als hätte es schon mit laufendem Motor gewartet. Irgendwann müsste man hier wirklich mal übernachten, in einer Hotellegende, die ihren Stil gefunden hat und aus dem Bewertungsspiel der Gastroguides ausgestiegen ist.
Hotel Lutetia
Bar Joséphine, Brasserie Lutetia
45, boulevard Raspail, F-75006 Paris
+33 1 4954 4600
hotellutetia.com