Bouillabaisse bei Joséphine

Unter den Pariser Luxushotels nahm das Lutetia immer eine Sonderrolle ein. Statt auf High-End-Küche setzt das 1910 eröffnete und soeben renovierte Haus auf Bistrogerichte à la marseillaise, Champagner und Flair. Stimmt das Konzept, sind Sterne im Michelin offensichtlich unwichtig.
Text: Wolfgang Fassbender – Fotos: z.V.g.
Veröffentlicht: 31.03.2020 | Aus: Salz & Pfeffer 2/2020

«Sechs Austern vom Utah Beach der Normandie kosten hier 21 Euro und damit weniger als in einem drittklassigen Bistro in Zürich.»  

Es ist genau 18.56 Uhr, und es sind tatsächlich noch Tische frei in der Bar Joséphine. Wenn man den Habitués zuhört, ist dies allerdings eine gewaltige Ausnahme, einzig und allein wohl der Tatsache zuzuschreiben, dass es sich um einen Dienstag im Januar handelt, der mit mässigem Wetter nicht unbedingt zum Ausgehen einlädt. An anderen Tagen müssen selbst Stammkunden warten, falls sie keinen Platz reserviert haben. Die Joséphine ist schliesslich mehr als eine Bar, sie ist eine Institution. Jedenfalls seit etwas mehr als eineinhalb Jahren. Damals eröffnete das Lutetia im lebendigen sechsten Arrondissement, eines von Paris berühmtesten Hotels, nach vier Jahre andauernder Renovation neu.

Der Architekt Jean-Michel Wilmotte liess den Salon Borghese restaurieren und machte den Frühstücksraum zur Bar. Das Management wiederum sorgte für Barhocker, auf denen der Gast wunderbar bequem sitzt, engagierte Jazzmusiker und setzte fürs Personal vermutlich einen Wettbewerb «Frankreich sucht den Superkellner» an. Wie sonst hätte man so höfliche, motivierte, diskrete Mitarbeiter finden können? Die auch noch zu strahlen beginnen, wenn man sie nach Champagner der Sorte Taittinger fragt. Nicht nach irgendeinem, sondern nach dem besonderen. Den extra brut – im Moment ein 2008er – kann man anderswo nicht kaufen, sondern ausschliesslich an Ort und Stelle trinken. 24 Euro das Glas, aber dafür gibt es auch allerlei Knabbereien. Angeblich erhalten selbst auf die Knie sinkende Gäste eine Absage, wenn sie versuchen, dem Personal ein paar Flaschen für zu Hause abzuluchsen.

Apropos Taittinger und Champagner. Es sind nur drei Steinwürfe vom Lutetia, dem 1910 fertiggestellten Luxushotel, bis zur École Ferrandi. Menschen aus aller Welt kochen und richten heute hier an, um einer Jury zu gefallen. Taittinger, das Champagnerhaus, hat wie jedes Jahr zum Prix culinaire geladen. Ein paar der Gäste logieren im Lutetia, ein paar andere kommen vor dem Galamenü, bei dem der Preisträger verkündet wird, wenigstens zum Apéro vorbei. Das mit Jugendstil prunkende Hotel gehört zwar seit 2005 nicht mehr zum Taittinger-Konzern, aber die Verbundenheit ist immer noch da. Dass man schneller einen Tisch in der Bar bekomme, wenn man vorher Vitalie Taittinger, die neue Chefin, anrufe, entpuppt sich allerdings als blosses Gerücht.

Ob es noch ein zweites Glas Champagner sein dürfe, fragt der Kellner. Er lächelt gerade so viel, dass es nicht aufdringlich wirkt, und sieht im Übrigen aus, als wäre sein Anzug massgeschneidert und er selbst ein berühmter Sänger, der nur so tut, als sei er Kellner. Aber heute nicht, vielen Dank. Auch kein Sashimi, keine Lachsrillettes, kein High-End-Barfood. Lieber noch ein letzter Blick auf die Fresken, in deren Freilegung der neue Besitzer angeblich 17 000 Arbeitsstunden und Millionen von Euro investiert hat.

Drei-Sterne-Koch Gérald Passedat stammt aus Marseille, hat aber auch in Paris Erfolg.
Kiwi, Gurke, Joghurt: pure Erfrischung als Dessert
Unumstrittener Signature Dish: die Bouillabaisse

19.30 Uhr: Der Portier pfeift ein Taxi herbei, und der Journalist fühlt sich wie in einem jener alten Pariser Schwarzweissfilme, in denen Taxis herausgehobene Rollen spielen. Sieht der Chauffeur nicht aus wie Jean Gabin? Zumindest Gérard Depardieu war schon hier (wie überall, wo es Gutes zu trinken gibt), Catherine Deneuve und klar, ganz früher, Josephine Baker, nach der die Bar benannt wurde.

Seit dem vorletzten Jahr ist auch Gérald Passedat vor Ort, hin und wieder wenigstens, und er ist der Grund für einen zweiten Besuch, zwei Wochen nach dem ersten. Unter den Drei-Sterne-Köchen des Landes ist der Mann, gerade 60 geworden, eher ein Geheimtipp, führt sein Le Petit Nice in Marseille unaufgeregt. Viel Fisch aus Tagesfang, Gemüse aus biologischem Anbau, auch schon mal Aussergewöhnliches wie Seeanemonen. Für 220 Euro bekäme man, unten am Mittelmeer, ein Menü mit allen Fisimatenten. In Paris müsste man mehr bezahlen, wollte man in einem der anderen Palace-Hotels zu Abend essen. Sie pflegen ja die ganz grosse, ganz teure Küche, drüben, auf dem anderen Ufer der Seine und liefern sich ein Wettrennen der Sterne. Zwei sind das Minimum, drei eigentlich Verpflichtung. Im Zweifelsfall wird Alain Ducasse engagiert, der wird es schon richten mit den Auszeichnungen, auf die angeblich alle Gäste Wert legen. Nur das Lutetia spielt da nicht mit – und das hat Tradition. Es galt immer als Ausnahme, als Ort jener, die Stil vors Geld setzten. Understatement war schon in den Zwanzigerjahren angesagt, und dass hier später ausgerechnet der deutsche Geheimdienst seinen Sitz nahm, dass SS-Offiziere in der Bar verkehrten, kann den Parisern niemand vorwerfen. Zum Ausgleich wurde das Hotel später zum Zentrum derer, die ins befreite Paris zurückkehrten. Auch Charles de Gaulle kam zum Essen.

Sterne gibt es also nicht zu bestaunen. Weder drei noch zwei. Nicht mal einen vergibt der Michelin an die beiden Restaurants. Saint-Germain heisst das erste, aber warum es existiert, weiss niemand so recht. Es kann sich nicht entscheiden zwischen grosser Küche und halbgrosser. Gérald Passedats Brasserie dagegen hat Profil, wirkt licht und hoch, besitzt sogar eine coole Sea Bar, an der man dem Muschelöffner auf die Finger schauen kann, ohne sich finanziell zu verausgaben. Sechs Austern vom Utah Beach der Normandie kosten 21 Euro und damit weniger als in einem drittklassigen Bistro in Zürich, die Luxus-Marke Gillardeau ist nur ein paar Euro teurer. Seeigel-Tarama schmeckt gut, und Thunfischtatar wird mit Pommes frites serviert, sofern niemand widerspricht. Dass es keine Seeanemonen gibt, ist zu verschmerzen – die meist ausgebacken servierten Lebewesen schmecken eh gewöhnungsbedürftig. Hauptsache, die Bouillabaisse ist nicht aus. Passedat lässt sie so herstellen, wie sie auch in Marseille längst nicht mehr üblich ist. Saftige Fischfilets und Kaisergranat in einer schicken Schüssel, die Brühe extra, die beste hausgemachte Rouille, die man in Paris finden kann, knusprige Brotscheiben, frisch in Olivenöl geröstet, gehobelter Parmigiano. Ja, 75 Euro. Seis drum. Eine richtige Bouillabaisse kann nicht billig sein und dürfte kaum anderswo in der Metropole in dieser Klasse zu haben sein. Und nur nicht den Pastis zum Apéro vergessen! Falls doch: Hat irgendwer gesagt, dass man Pastis nicht auch als Digestif bestellen könnte? Der Kellner aus der Bar Joséphine würde nicht mal mit den Augenbrauen zucken, so gut ist er geschult. Das Lutetia steht über den Dingen. Darauf ein letztes Glas Taittinger extra brut.

21.52 Uhr. Schaut der Portier nicht so, als kennte er den aus der Schweiz angereisten Gast schon? Hat gewiss ein gutes Gedächtnis. Das Taxi zischt um die Ecke, als hätte es schon mit laufendem Motor gewartet. Irgendwann müsste man hier wirklich mal übernachten, in einer Hotellegende, die ihren Stil gefunden hat und aus dem Bewertungsspiel der Gastroguides ausgestiegen ist.

Hotel Lutetia
Bar Joséphine, Brasserie Lutetia
45, boulevard Raspail, F-75006 Paris
+33 1 4954 4600
hotellutetia.com

Taittinger und die jungen Köche
Der Schweizer Victor Moriez hatte keine Chance, aber das liegt vermutlich daran, dass sich nichts Genaues voraussagen lässt und es halt immer auch auf die Tagesform der Jury ankommt. Und schliesslich kann ja nicht alle Tage ein in der Schweiz tätiger Koch den renommierten Wettbewerb für junge Köche gewinnen. Als der Prix Culinaire erstmals vom Champagnerhaus Taittinger veranstaltet wurde, 1967, war Charles de Gaulle noch Präsident und die Mondlandung ein Zukunftsmärchen. Bald darauf gewann ein gewisser Joël Robuchon den Preis und setzte zu einer Karriere an, die ihresgleichen suchte. Viel später war dann Jérémy Desbraux dran, einer aus dem Stall des Restaurants de l’Hôtel de Ville, heute in Le Noirmont mit zwei Sternen gekürt. Dass auch Victor Moriez in Crissier arbeitet, wundert kaum – dass die Deutschschweizer Köche wenig am Pariser Kräftemessen interessiert sind, ebenfalls nicht.



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