Was der Boden hergibt
Am diesjährigen Symposium besinnt sich Soil to Soul auf seine Wurzeln – und holt einen Star der portugiesischen Küche nach Zürich, dessen Konzept perfekt zur Veranstaltung passt.
«Die Brunftzeit ist unsere Saison.»
Es mag nicht jedermanns Sache sein, beim Vertilgen eines hausgebeizten Hirschpfeffers – liebevoll mit Tagliatelle, Rotkraut und Rotweinapfel auf dem Teller drapiert – aus dem Fenster zu schauen und auf der Wiese vor dem Haus das Hirschrudel beim Grasen zu beobachten. Wobei, ganz ehrlich: Das hat was. Und im Hotel Parc Naziunal Il Fuorn, in dem es gar nicht so selten zu dieser Szene kommt, sorgt der Ausblick aus dem Gastraum für deutlich mehr Entzücken als Irritation. Wer hier, im einzigen Hotel im Schweizerischen Nationalpark, einkehrt, ist mit ziemlicher Sicherheit ein Wanderer oder Naturfreund, wenn nicht beides: Vom Haus führen die Wanderwege direkt in die Wildnis, mit dem Postauto gehts nach Zernez oder auf den Ofenpass, ins Münstertal und ins Südtirol. Im Il Fuorn auf knapp 1800 Metern über Meer kommen aber nicht nur Outdoorfans und Tierbeobachter auf ihre Kosten, sondern auch Geniesser.
Dafür sorgt im altehrwürdigen Haus an der Passstrasse Küchenchef Marco Pezzini: Was er auf den Tisch bringt, entspricht auf den ersten Blick schlicht und ergreifend den Erwartungen an ein Bündner Gasthaus (Gerstensuppe, Pizzoccheri, Capuns) – beim ersten Bissen allerdings werden die bereits übertroffen. Weil Pezzini mit kochtechnischer Raffinesse und Freude am Handwerk zur Tat schreitet, und weil er für seine «authentische Bergküche» beste Produkte aus der Region verarbeitet: Das Wild bezieht er aus lokaler Jagd (selbstredend nicht aus dem Nationalpark), das Natura-Beef stammt von Isidor Sepps Hof in Müstair, auch Butter und Käse in Bioqualität, Bündnerfleisch und der Salsiz, der im Keller des Hotels reift, kommen aus dem benachbarten Münstertal. Eine Veltliner Spezialität ist neben den Pizzoccheri, für die die Gusseisentöpfe in Valmalenco von Hand gefertigt werden, auch das Gericht Sciatt: Käsestücke, die in einer fluffigen Buchweizenmehlhülle ausgebacken werden. Besonders stolz ist der Küchenchef auf seine kleine Pastamanufaktur im Keller: Hier stellt er die Teige selbst her, sei es für die Pizzoccheri und Capuns, für die Tagliatelle mit Steinpilzen und Bündnerfleischstreifen, die Ravioli mit Speck und Lauch oder die traditionelle Nusstorte. Beim Arbeiten schweift sein Blick durch die Fensterfront in die Natur: «Hier stehen sie jeweils», sagt Pezzini und zeigt auf die Wiese. «Die Hirsche sind meine Freunde.»
Apropos: Freundschaftlich gehts im Il Fuorn auch unter den Menschen zu, um nicht zu sagen: familiär. Die Stimmung im Team ist gelöst, der Gast willkommen. Seit 2004 gehört das Hotel mit 37 Zimmern Romano Galli aus dem italienischen Livigno, gleich ennet der Grenze. Er übernahm das Haus von der Familie Pitschen, die es seit 1892 geführt hatte. Heute ist Gallis Sohn Sergio in der Pflicht: Er steht dem Team als Gastgeber vor. Mit Lucia Cantoni und Ardia Valcepina hat er an der Front zwei Frauen, die dem Il Fuorn Leben einhauchen, seit Jahren im Haus arbeiten und dessen Geschichte in- und auswendig kennen.
Dass die Historie hier eine wichtige Rolle spielt, ist nicht zu übersehen. Als offizielles Geburtsjahr des Hotels gilt immerhin 1489: Die Geschichte des Gasthauses ist eng mit der Säumerei und dem Bergbau verbunden. Erste Indizien für die Nutzung des Ofenpasses als Alpenübergang gehen aufs Jahr 1332 zurück, und einiges deutet darauf hin, dass in der Umgebung einst Eisenerz abgebaut wurde. Nicht zuletzt der Name des Hotels: Die Rhätier nannten es anno dazumal «alg Fuorn» – «zum Ofen» der Eisenschmelze. All das kann der geneigte Gast nachlesen – die Geschichte ist in Form alter Gegenstände und Bilder, die an den Wänden hängen oder in den Ecken stehen, aber auch ohne tiefergehende Lektüre gegenwärtig. So erinnert in einem der Speiseräume ein altes Foto an den legendären Simeon Gruber: Er amtete von 1847 bis 1870 als Fuorn-Wirt und schaut heute, ausgerüstet mit Stock und Gewehr, Hut und Schnurrbart angemessen ernst auf die Gäste herab.
Neben der langen Tradition setzt man im Il Fuorn auf das, was das Hotel auszeichnet: die Lage mitten im Schweizerischen Nationalpark. Nur hier – und in der deutlich einfacher ausgestatteten Chamanna Cluozza – darf man in der Wildnisregion übernachten. Und das zieht. Im September, wenn die männlichen Rothirsche mit lautem Röhren um die Gunst der Damen werben, ist das Il Fuorn ständig ausgebucht. «Die Brunftzeit ist unsere Saison», sagt Rezeptionistin Valcepina. In der Küche stehen sie dann zu fünft, um die Leute in den verschiedenen Gasträumen und auf der Terrasse zu verköstigen.
Ein Besuch lohnt sich aber auch ausserhalb der Paarungszeit; das Il Fuorn ist jeweils von Mitte Mai bis Anfang November geöffnet. Die Zimmer sind hell und zwar schlicht, aber komfortabel eingerichtet – insbesondere, wenn man Ruhe, Entspannung und den unmittelbaren Blick auf Wiesen, Wälder und in die schroffen Berge als Luxus wertschätzt. Beim Interieur punktet das Il Fuorn mit einheimischem Arvenholz, dezenten Farben und natürlichen Materialien sowie einer illustren Auswahl an Bildern des Schweizer Naturfotografen Lars Deutschländer, der im Innern des Hauses für Impressionen aus der Umgebung sorgt. Fernseher gibts auf den Gästezimmern keine, dafür bekommt der Gast einen Feldstecher in die Hand gedrückt. Ist eh spannender: versprochen!
Wo die Natur bestimmt
Der Schweizerische Nationalpark (SNP) ist das grösste Wildnisgebiet des Landes. Er liegt auf Bündner Boden und umfasst 170 Quadratkilometer unberührte Natur mit 80 Kilometern markierten Wanderwegen. 1914 gegründet, ist er der älteste Nationalpark der Alpen und Mitteleuropas. Seit über 100 Jahren sind hier Tiere, Pflanzen, Lebensräume und natürliche Prozesse vor menschlichen Einflüssen geschützt: So ist es nicht erlaubt, die Wege zu verlassen, Blumen zu pflücken, Wiesen zu mähen, Tiere zu töten oder Bäume zu fällen. Entsprechend beherbergt der SNP einen aussergewöhnlichen Reichtum an Alpentieren: Gämse, Hirsche und Murmeltiere, aber auch der Bartgeier und eine vielfältige Flora gehören zu seinen Markenzeichen. Über das Besucherzentrum in Zernez gibts alle weiteren Infos.
Einfach mittendrin
Neben dem Il Fuorn gibts im Nationalpark noch eine Möglichkeit zu nächtigen: Die Chamanna Cluozza ist eine simple Hütte in der wilden Val Cluozza, dem Herzen des Parks. Das Blockhaus befindet sich auf 1882 Metern über Meer, wurde 1910 erbaut und bietet Platz für 58 Gäste in Mehrbettzimmern und im Matratzenlager. Toiletten und Waschräume sind ausserhalb der Hütte, Duschen gibts keine – dafür Halbpension, Lunchpakete, Snacks und Getränke. Die Chamanna Cluozza ist zu Fuss vom Bahnhof Zernez in dreieinhalb Stunden erreichbar. Dieses Jahr ist sie bis am 13. Oktober offen.
Chamanna Cluozza
Hüttenwarte Marlies und Jürg Martig
081 856 12 35