Einer für alles
Im Burgdorfer Restaurant Zur Gedult hat sich Lukas Kiener kontinuierlich in die Sterne-Liga gekocht. Jetzt nimmt der Einzelkämpfer das nächste Ziel ins Visier.
«Es gibt meiner Ansicht nach keine Region der Schweiz, die kulinarisch so viel hergibt wie das Bündnerland.»
Seit Sie letzten Herbst zur «Entdeckung des Jahres» gekürt und mit Punkten, Sternen und Lob überhäuft wurden, bekommen Sie enorm viel Aufmerksamkeit. Hat Sie das verändert?
Sven Wassmer: Nein, gar nicht. Wobei – doch. Ich bin gelassener geworden. Man muss es geniessen, dabei aber authentisch bleiben. Ich gebe mich, wie ich bin, und stehe zu meiner Message. Die kann ich dank der Publizität heute auch nach aussen tragen.
Wie lautet sie denn, Ihre Botschaft?
Ein wichtiges Anliegen ist mir die Nachhaltigkeit, die sich in meiner Arbeit zeigt. Ich finde es toll, auf 1250 Metern in alpiner Höhe zu kochen: Vals ist mein Garten. Mein Team und ich gehen raus, sammeln, was die Natur hergibt, und verkochen es direkt oder machen es ein. Ich habe aber auch sonst viel gesehen und tolle Beziehungen über die Landesgrenzen hinaus – zum Beispiel nach Norwegen zu einem Herrn, der nach Jakobsmuscheln taucht. Mein Verhältnis zu Fisch und Meeresfrüchten wurde während meiner Zeit in London neu geprägt, da war die Küste plötzlich nah und Seafood bekam eine andere Dimension. Entscheidend ist die Saison: Wenn Jakobsmuscheln Saison haben, kaufe ich sie auch fürs «Silver» ein und kombiniere sie mit Produkten aus der Umgebung. Das ist Teil meiner Message: Nicht nur Früchte oder Gemüse kennen eine Saison, sondern eben auch Fisch oder Krustentiere. Dann bin ich davon überzeugt: Genuss kennt keine Grenzen.
Ein eingängiger Slogan.
Der Satz ist kurz, aber wahr. Wobei man die eigene Region nie vernachlässigen darf.
Aber von der Beschränkung auf regionale Zutaten halten Sie nicht viel?
Ich interpretiere sie anders. Ich koche mit dem, was im Wald wächst und wir sammeln: Tanne und Moos, allerlei Beeren, Pilze, Wildkräuter ... Da kaufe ich nichts ein und finde, es liegt an uns, die Sachen zu ernten, wenn sie reif sind, und zu verarbeiten oder haltbar zu machen. Ich plane im Jahresturnus, da bin ich superregional. Auch beim Fleisch und Fisch orientiere ich mich in der Umgebung. Zum Glück gibts in Vals einen, der schottische Hochlandrinder züchtet – das Fleisch ist regional und qualitativ hochwertig. Regional bedeutet ja nicht automatisch eine hohe Qualität, und für mich muss schon beides stimmen. Das tut es auch bei den Saiblingen, die ich aus dem Zervreilasee bekomme, oder bei den Produkten aus der alpinen Fischzucht in Cumbel. Es gibt meiner Ansicht nach keine Region der Schweiz, die kulinarisch so viel hergibt wie das Bündnerland mit seinen Einflüssen aus Italien und Österreich. Die spielen seit jeher eine Rolle hier. In Vals wurde früher Käse gegen Salami getauscht. Eben weil Genuss keine Grenzen kennt.
Ihre Art zu kochen, sei eigen, sagen Sie. Wie ist das zu verstehen?
Wenn ich meinen Kochstil beschreiben soll, sage ich immer: Sven Wassmer. Ich mag mich nicht festlegen oder in einen Rahmen pressen lassen. Ich will frei sein. Wobei es Eckpunkte gibt, die mir immer wichtig sind. Essen muss schmecken, sollte aber auch gesund und ausbalanciert sein. Obendrauf kommt die Kunst: Es soll toll aussehen. Alles spielt eine Rolle. Was liegt wie auf dem Teller? Und woher kommt es? Ich erzähle eine Geschichte – aus Erinnerungen von mir, um neue Erinnerungen zu schaffen.
Eine wichtige Inspirationsquelle ist Ihre Grossmutter.
Unbedingt. Ich wuchs damit auf, dass meine Oma und meine Mutter frisch kochten, im Garten ernteten, selber verarbeiteten und einmachten. Das war normal für mich, ich lernte damals viel. Umso schlimmer finde ich, dass heute in der Abschlussprüfung zum Koch Convenienceprodukte zugelassen sind. Wo bleibt der Berufsstolz? Wo das Handwerk? Es geht doch darum, dass ein Koch weiss, wie er etwas haltbar macht oder ein Tier zerlegt.
Wie wählen Sie Ihre Mitarbeiter aus?
Mit vielen arbeitete ich früher zusammen. Und sonst? Ich habe kein Schema. Entscheidend ist für mich die Freude; da muss ein Funke überspringen. Die Person soll etwas lernen wollen, motiviert sein. Gerade in meiner Küche, in der es jeden zweiten Morgen raus in den Wald geht, braucht es Menschen auf der gleichen Wellenlänge, die mit der Natur verbunden sind. Wir arbeiten auch nicht wirklich klassisch: Zwar hat jeder seinen Posten, aber es ist eher ein interaktives Konzept. Hat einer nichts zu tun, hilft er andernorts. Ein Turnus in meiner Küche dauert nicht lang; wer bei mir lernt, macht alle Stationen in zwei Jahren – dann erst versteht er mich und meine Arbeit richtig.
Wie kommen Sie zu diesem Führungsstil?
Er basiert auf meinen Erfahrungen. Ich machte mir sehr früh Gedanken, wie ich möchte, dass meine Küche eines Tages funktioniert.
Wie denn?
Harmonisch, ruhig, ohne Anschreien, mit Respekt. Dass man den Leuten mal Dampf machen muss, ist normal, aber nur wenn das Zwischenmenschliche passt, stimmen auch die Leistungen. Ich arbeitete in Küchen, in denen es schrecklich zuging, jenseits von Gut und Böse, da wurde beleidigt und wurden Teller in die Ecke zurückgeschmissen. Wenn ich mal lauter werde, dann nur, um die Leute zu wecken, nicht, um sie fertigzumachen.
Tragender Teil des Konzepts ist das gemeinsame Sammeln.
Die Zeit im Wald formt das Team und schweisst zusammen: Wir sind in der Natur, tauschen uns aus und erholen uns – während wir arbeiten. Zweimal pro Saison kommen auch die Servicemitarbeiter mit, damit sie wissen, welche Arbeit hinter den Gerichten steckt und woher die Zutaten stammen. Der Service ist ein wichtiger Bestandteil, er transportiert die Geschichte zum Gast. Ich habe eine wirklich tolle Brigade, und die brauche ich auf dem Niveau auch.
Ihr Team und Sie stehen unter einem gewaltigen Erwartungsdruck – auch was die nächsten Wertungen angeht –, nicht?
Natürlich nahm der Druck zu, als ich mit 17 Punkten einstieg. Ich kann damit aber gut umgehen, glaube ich, und gab den Stress nie ans Team weiter. Es hilft, dass ich unverfälscht bin: Wie ich koche, das bin ich. Wenn man mit seiner authentischen Art so viel erreicht, ist klar, dass funktioniert, was man tut. Ichmache mir keine Sorgen, weil ich ja weiss, was mein Team leistet und kann. Nach links oder rechts schaue ich nicht, das lenkt bloss ab. Zum Glück kann ich hier am Ende der Welt mein Ding machen – und wer weiss, vielleicht kommt dafür in der nächsten Wertung ja sogar noch was dazu?
Und der Vergleich mit Andreas Caminada? Ich stelle mir das nicht nur einfach vor.
Ich komme ja aus seiner Küche raus, kochte zwei Jahre bei ihm – und war zu einem Zeitpunkt auf Schloss Schauenstein, als wir viel erreichten: Caminada erhielt den 19. Punkt, den dritten Stern und wurde zum zweiten Mal «Koch des Jahres». Ich konnte enorm viel mitnehmen, zum Beispiel die Erfahrung, wie es ist, wenn der Druck in einer Küche plötzlich steigt. Caminada zeigte, wie man ein Team in dieser Situation motiviert. Und er lehrte mich, dass die Details zählen. Essen, Service und Ambiente: Alles spielt eine Rolle.
Sie verkaufen ein Gesamterlebnis, das eng mit Ihrer Person verknüpft ist. Es ist schon ein Privileg, dass Ihnen Patron Remo Stoffel hier völlig freie Hand lässt ...
Ja. Es ist toll, hier zu arbeiten, in einem Betrieb, in dem investiert wird und man vorankommen möchte. Ich schätze es sehr, dass ich mich verwirklichen darf. Wenn da einer hintendran stünde, der Befehle erteilt, könnte ich meine Geschichte nicht erzählen.
Nun gibts ja Stimmen, die finden, die Punkteleistung eines Kochs ohne Kostendruck sei weniger wert. Was sagen Sie dazu?
Zu finanziellen Fragen sage ich nichts. Nur so viel: Ich sammle alle Kräuter, kaufe ganze Tiere ein, die ich vollständig verwerte, und produziere viel selbst, etwa Würste, Trockenfleisch oder Salsiz. Damit stehe ich besser da als mancher, der alles bestellt. Es ist nicht zwingend besonders teuer, was ich hier mache. Ich habe das Personal und die Zeit zur Verfügung, klar, aber die muss ich sorgfältig einteilen. Es liegt in meiner Verantwortung, dass mein Team nicht jeden Tag 16 Stunden buckelt.
Teil der Crew ist auch Ihre Frau Amanda.
Sie ist mein Gegenpart, ja, und es ist toll, dass wir zusammenarbeiten. Wir sind eine Einheit.
Wir haben viel über Ihre Affinität zum Produkt gesprochen. Gibt es eins, das sie momentan total beschäftigt?
Das ist eine schwierige Frage, so aus dem Stegreif heraus. Ameisen faszinieren mich sehr.
Warum?
Wegen ihrer Säure. Im Amazonas kocht man seit jeher mit Ameisen, und auch im «Nordic Food Lab» und im «Noma» in Kopenhagen gabs schon Versuche damit. Ich kenne mich nicht besonders gut aus mit Insekten, aber wenn wir in der Natur unterwegs sind, begegnen wir natürlich auch den grossen Waldameisenhaufen. Und kürzlich war ich allein draussen und dachte mir: Das ist die Chance! Ich schnappte mir eine Ameise und ass sie.
Und?
Ich war erstaunt, welche schöne florale Säure sie hat: wie die beste Zitrone, die man sich vorstellen kann. Sauer, aber dochirgendwie süss. Rund, blumig. Säure von einem Tier, das es zahlreich in unserer Umgebung gibt – das begeistert mich echt. Ich mache darum ein Gericht mit einer Ameisenvinaigrette. Zuerst mussten wir ja herausfinden, wie man die Tiere am besten abschöpft – mit dem nötigen Respekt. Wir bespritzen jetzt eine Gaze mit Zuckerwasser, legen sie auf den Haufen und packen sie, wenn sich die Ameisen darauf versammelt haben, in ein Tupperware.
Wie steht es um Ihr Interesse an Kochtechniken?
Damit befasse ich mich viel und gern, aber nicht im Sinne von avantgardistisch oder molekular oder so. Kochen ist immer Chemie und Physik, klar. Was mich mehr interessiert, ist der kulturelle Aspekt: eine Schnitttechnik, zum Beispiel, oder eine bestimmte Art des Garens. Besonders die japanische Küche inspiriert mich da sehr, weil sie das Produkt ins Zentrum und dann die Frage stellt, wie man dieses am besten verarbeitet. So mache ich das auch.
Wie viel dürfen Ihre Mitarbeiter da mitreden?
Der Austausch ist das Herz jeder Küche und findet immer statt. Ich mache mir Gedanken, schreibe das Menü, fälle die finalen Entscheidungen, klar, aber dafür sind die Leute ja auch hier: um zu lernen. Mir ist die Diskussion dennoch wichtig, und ich fordere meine Leute gern heraus, zum Beispiel mit dem «Freaky Sunday Project».
Was ist das?
Ich gebe meinem Team jeden Samstag ein Produkt vor – sagen wir: Tanne oder Kaviar oder Fischleber oder auch einfach Milch. Dann sind sie völlig frei. Am Sonntag stellt jeder ein Gericht vor, das er aufgrund der Vorgabe kreiert hat, wir degustieren uns quer durch, jeder erzählt, was er sich gedacht hat, wir diskutieren. Ich will, dass meine Köche übers Essen nachdenken. Und das Projekt ist sehr inspirativ – auch für mich.
Gerade mal 29 Jahre jung ist er – und wird bereits als Nachfolger eines ganz Grossen gehandelt: Gault & Millau kürte Sven Wassmer nicht nur zur aktuellen «Entdeckung des Jahres» und belohnte ihn auf Anhieb mit 17 Punkten, sondern verglich ihn in überschwänglichen Worten auch mit Andreas Caminada. Der erste Stern von Michelin folgte hintendrein. Das ist bemerkenswert, nicht aber wirklich erstaunlich, wenn man sieht, wie Wassmer die Karriereleiter steil, beharrlich und gleichwohl leichtfüssig emporklettert. Seinen eigenen Kochstil scheint der gebürtige Fricktaler längst gefunden zu haben – und der kommt gut an. Die Lehre absolvierte Wassmer im Swissôtel La Plaza in Basel, seine Sporen verdiente er sich in den Sterneküchen von Markus G. Lindner (damals «Mesa», Zürich) und von Caminada auf Schloss Schauenstein. Dann heuerte er im Restaurant Viajante des Town Hall Hotels in London an, wo er vier Jahre blieb und zuletzt als Souschef amtete. Anfang 2013 folgte er dem Ruf seines Freundes Nenad Mlinarevic nach Vitznau ins «Focus». Seit Dezember 2014 ist Wassmer Küchenchef im Restaurant Silver im 7132 Hotel, Vals. Dank Patron Remo Stoffel geniesst er viel Freiheit und kann das Gourmetlokal gemeinsam mit seiner Frau Amanda, die als Restaurantleiterin und Sommelière amtet, mit seiner unverkennbaren Handschrift prägen.
7132 Hotel, Restaurant Silver, 7132 Vals, 058 713 20 00, www.7132.com