Einer für alles
Im Burgdorfer Restaurant Zur Gedult hat sich Lukas Kiener kontinuierlich in die Sterne-Liga gekocht. Jetzt nimmt der Einzelkämpfer das nächste Ziel ins Visier.
«Ich will nichts kopieren, sondern eine Geschichte aus meinem Leben erzählen.»
Mit den Gerichten, die Sie für unser Shooting zubereiteten, wollen Sie ein Stück Ihrer Persönlichkeit zeigen. Was sehen wir?
Kevin Wüthrich: Die Vorspeise mit Zander und Traube unterstreicht zum Beispiel meine Verbindung zur Natur und macht deutlich, dass ich gern alte und neue Kochtechniken verbinde. Konservieren ist für mich ein grosses Thema: nicht nur aus Interesse, sondern auch organisatorisch. In der Vorbereitung haben wir mehr Zeit, um ein Produkt richtig gut zu verarbeiten, als unter Druck im Service.
Neben dem Zander bringen Sie die Traube gleich in zehn Varianten auf den Teller. Was steckt dahinter?
Die Monotopie ist ein Konzept, mit dem ich sehr gern spiele. Ich nehme ein Produkt, hier die Traube, und schaue, was ich davon alles verwenden kann. Dann überlege ich, mit welchen verschiedenen Techniken ich diese Komponenten verarbeiten will. Daraus ergibt sich eine unglaubliche Vielfalt. In der Vorspeise haben wir am Ende Traubenkernmehl und -öl, die Blätter, Rosinen, Weinessig und -marc, Verjus, rote und weisse sowie eingelegte Trauben. Dieser Ansatz, den ich schon früh verfolgte, intensivierte sich in der Arbeit bei Stefan Wiesner noch einmal.
Sie sprechen ihn gleich selber an: Stefan Wiesner, den Hexer vom Entlebuch. Die drei Jahre als Souschef bei ihm haben Sie stark geprägt.
Unbedingt, ja. Als ich ihn als Bub im Fernsehen sah, war ich schon fasziniert von ihm. Und die Arbeit bei ihm war sehr eindrücklich. Die Art, wie Stefan kocht, passt gut zu mir. Wir haben zum Teil ähnliche Ideen.
Zum Beispiel?
Ich richtete schon im Bären in Langnau mein Rehtatar mit Brombeeren und Tannen auf einem Holzteller an – um einen Bezug zum Wald, in dem das Reh wohnt, und zum Futter, das es frisst, zu schaffen. Stefan ist da noch viel extremer. Er brachte mir bei, was man alles essen kann, und lehrte mich die Sorgfalt, ein Produkt wirklich genau anzuschauen. Ich lernte, wie man den Kreis von einem Produkt aus immer weiter zieht.
Wie geht das?
Nehmen wir ein Rüebli, das ist ein gutes Beispiel. Man hat also das Rüebli selbst, dann hat man die Schale, die Wurzel, das Kraut und die Samen. Aber hier ist noch längst nicht Schluss: Rund um das Rüebli gibt es die Erde, in der man es zum Beispiel backen könnte. Und so weiter ... Die Frage ist lediglich, wie viel Zeit man hat – und wie extrem man sein möchte. Stefan kennt dabei kaum Grenzen. Wenn sich bei ihm ein Gericht um das Huhn respektive um das Ei dreht, beschallt er dieses vielleicht noch mit Gegackere – und spielt den Klang während des Essens im Gastraum ab.
Auf Ihrem zweiten Teller spielt eine Wurst die Hauptrolle – noch etwas, das Ihnen Stefan Wiesner mitgegeben hat?
Ich wurste tatsächlich schon sehr lange gern und stellte bereits im Bären jeweils meine Monatswurst her. Aber klar, bei Stefan war das Thema Wurst auch allgegenwärtig, und ich lernte noch einmal viel dazu.
Was macht eine gute Wurst aus?
Sie ist nicht langweilig. Würzen am Limit! Eine gute Wurst ist saftig, enthält also genug Fett, und schmeckt intensiv. Generell ist meine Küche eher auf der kantigen Seite. Gewisse Komponenten dürfen subtiler sein, aber ich mag es, wenn man wirklich etwas schmeckt. Genug Salz, genug Schärfe, genug Säure: Es darf auch mal ein bisschen brennen. Manchmal sogar zweimal. Wichtig ist mir zudem: Eine Wurst dient nicht dazu, schlechtes Fleisch loszuwerden.
Sondern?
Sie bietet eine Möglichkeit, einem anderen Stück vom Tier als Filet oder Entrecôte einen neuen Wert zu verleihen, indem man es mit einer passenden Geschmacksrichtung vermählt. Zum Beispiel mit Curry wie in meinem Gericht fürs Shooting. Die Poulet-Hanf-Wurst enthält einen Hauch selbstgemachtes Curry, das ich auch für die Sauce verwende. Dazu kombiniere ich Saisonales wie Quinoa und einen Kräutersalat von Espro. Das ist pure Regionalität!
Von Monotopie indes keine Spur.
Die Abwechslung machts. Die Currywurst 2.0 ist ein verspieltes, lautes Gericht, in dem verschiedenste Geschmäcker aufeinandertreffen: voller Power, Fett und Schärfe. Es vibriert auf dem Teller. Zusammen mit sanfteren Kompositionen, die den Fokus auf ein einzelnes Produkt legen, funktioniert das im Menü sehr gut.
Deshalb liegt auf dem dritten Dessertteller wieder «nur» ein Apfel?
Die Nachspeise ist für mich eine echte Herzensangelegenheit. Ich reise gern ins Elsass, und dort insbesondere in die Auberge de l’Ill von Marc Haeberlin. Sie ist für mich ein Ort, um Energie zu tanken, um Inspiration zu finden. Eins von Haeberlins bekannten Gerichten ist eine Kombination von Pfirsich, Champagner-Sabayon und Pistazienglace. In Anlehnung daran, als Hommage an seine Arbeit, kreierte ich mein Apfel-Dessert. Ich will damit nichts kopieren, ganz und gar nicht, sondern mit dem Gericht eine Geschichte aus meinem Leben erzählen. Besonders stolz bin ich auf den Teller, den der Mann unserer Lehrtochter, ein gelernter Zimmermann, für uns aus Apfelholz fertigte. Darauf liegt der geschälte und konservierte Apfel, der – wie auch der Cider für die Sabayon – von unserem Produzenten Andreas Lanz in Steffisburg stammt. Weil wir die Frucht mitsamt Kernen und Stiel einmachten, erhielt sie eine leichte Mandelnote. Zuerst wollte ich deshalb ein Mandelglace dazu reichen. Wegen der Regionalität basiert dieses nun aber auf gerösteter Haselnuss.
Regionalität beschäftigt Sie: Zuletzt schafften Sie in Ihrer Küche das Olivenöl ab.
Das stimmt, ich mag da aber nicht dogmatisch sein. Ich finde einfach, dass wir zum Beispiel mit Schweizer Rapsöl eine wunderbare Alternative haben. Aber wir haben auch nicht alles von hier. Für meine Currymischungen etwa brauche ich Zutaten, die es in der Umgebung gar nicht gibt. In anderen Punkten können wir regional sein – und da sind wirs. Auch deshalb gaben wir unserer Lehrtochter im Lockdown den Auftrag, einen Saisonkalender für den Gastraum zu gestalten.
Welche Rolle spielt für Sie der Bildungsauftrag?
Wir wollen niemanden erziehen, aber das Ausbilden ist uns wichtig. Wir haben aktuell drei Lehrlinge, zwei in der Küche und einen im Service. Weil wir mit dem Ludmilla in Bern einen Partnerbetrieb haben, sind wir dafür gut aufgestellt: Wir verfügen im Unternehmen über richtig viel Kompetenz, haben zum Beispiel mehrere Sommeliers und Baristas im Team und können eine Menge Fachwissen weitergeben.
Und welche Erwartungen haben Sie an Ihr Team?
Ich bin jetzt nicht der organisierteste Mensch, ich habe aber durchaus einen Plan im Kopf. Es gibt Dinge, die möchte ich in einer gewissen Art haben. Wenn die Natur hineinspielt und ein Apfel deswegen nicht immer gleich schmeckt, habe ich damit kein Problem, aber in der Zubereitung gebe ich schon Leitplanken vor. Zurzeit öffnen wir das Restaurant sechs Tage die Woche, ich versuche aber, mein 100-Prozent-Pensum in vier Tage zu packen. Die Küche muss also ohne mich funktionieren, und es braucht Vorgaben, damit das Essen immer gleich gut auf den Tisch kommt. Ich will nicht der geilste Koch sein, wenn zehn Leute bei uns speisen, und der mieseste Koch, wenn 100 Gäste da sind.
Was möchten Sie stattdessen?
Schön kochen, die Menschen glücklich machen und wirtschaftlich arbeiten. Seien wir realistisch: Wir haben hier 54 Plätze drinnen und 64 draussen, der Standort zieht viel Laufkundschaft an und wir haben hier auch eine Nachmittagskarte mit Flammkuchen und Co. Ich versuche, da meine Philosophie und meinen Bezug zur Umgebung ebenfalls einfliessen zu lassen. Kreativ ausleben kann ich mich abends im Streifzug, unserem Gourmetmenü in sieben Gängen. Es ist ein Spagat, aber es läuft richtig gut – wenn wir nicht gerade im Lockdown sind. Und ich glaube, dass man mich hier durchaus spürt, meine Handschrift erkennt. In der Karte, die ich schreibe, steckt nicht nur mein Gedankengut, sondern auch meine ganze Leidenschaft.
Wenn die Verwandtschaft feierte oder die Familie ein Restaurant besuchte, führte er als Kind Buch darüber, was auf den Tisch kam – und wie es schmeckte: Heute ist Kevin «Wüde» Wüthrich zwar kein Restaurantkritiker («vielleicht wird das ja noch»), aber Küchenchef. Seit einem Jahr führt er mit seiner Partnerin Andrea Vogt das Dampfschiff Thun, das wie das Ludmilla in Bern zum Portfolio der Buma Gastro GmbH gehört. Die Vernetzung in der Region prägt Wüthrichs berufliche Laufbahn: Aufgewachsen in Heimberg, erhielt er in der Kochlehre bei Hanspeter Zurflüh im Bahnhöfli Steffisburg eine strenge, aber grundsolide Ausbildung. Es folgten ein erster Halt im Dampfschiff Thun für etwas mehr als eine Saison, ein paar Monate im Paprika in Neuenburg sowie – im Wechsel mit der Küchenchefausbildung der Armee – mehrere Saisons in der Grossküche des Gstaad Palace. Hier lernte der heute 31-Jährige Simon Adam kennen, mit dem er 2011 für knapp drei Jahre nach Winterthur ins Schloss Wülflingen ging. Anschliessend heuerte er bei Florian Stähli im Hotel L’Auberge Langenthal als Souschef an, bevor er zu Adam zurückkehrte und den Küchenchefposten in dessen Bären in Langnau übernahm. Im November 2017 wechselte Wüthrich in den Gasthof Rössli in Escholzmatt: Die Zeit als Souschef im Team von Stefan Wiesner bezeichnet er als besonders prägend – auch weil sich dort für ihn ein Kreis schloss: Schon als Kind war Wüthrich vom Hexer vom Entlebuch so fasziniert, dass er sich selbst in den Wald aufmachte, um allerlei Essbares zu sammeln.
Restaurant Dampfschiff, Hofstettenstrasse 20, 3600 Thun, 033 221 49 49, dampfschiff-thun.ch