Ausgefressen

Zur essbaren Ästhetik

Um die Jahrtausendwende haben meine Partnerin Sonja Stummerer und ich damit begonnen, Recherchen zum Essen anzustellen. Von Beginn an fassten wir unsere Forschungen, unsere Texte und unsere Illustrationen unter dem Begriff Food Design zusammen. Wir wollten die gestalterischen Parameter hinter der ach so alltäglichen Nahrung begreifen und darstellen. Bis heute verstehen wir Essen als einen zutiefst schöpferischen Akt. Aber während der ersten Jahre schlossen wir das Kochen als designerischen oder gar künstlerischen Prozess explizit aus. Vielleicht war es doch zu alltäglich. Ziemlich sicher haben wir die soziale, politische und kulturelle Tragweite des Kochens gar nicht verstanden. Unsere Kunsthochschulabsolventenarroganz tat ihr Übriges. Wir lehnten die Ästhetik der Zubereitung von Nahrung im Rahmen unserer Tätigkeit ab. Das war ein schwerer Fehler.

Der deutsche Sozialpsychologe und Nachhaltigkeitsaktivist Harald Welzer schrieb vor einigen Jahren, dass es der Umweltbewegung bis heute nicht gelungen sei, eine eigene Ästhetik zu entwickeln. Das ist ein Problem, denn eine Gesellschaft definiert sich auch über die Bestimmung des Schönen und der Hässlichkeit. Die gemeinsame Begeisterung vieler Menschen für eine «neue Schönheit» kann Veränderungen provozieren. Und genau das wäre gegenwärtig nötig. Der Mangel an einer nachhaltigen Ästhetik zeigt sich auch in der kaum vorhandenen öffentlichen Akzeptanz nachhaltiger Ideen. Welzer hat fast recht. Architektur, Design, bildende und darstellende Kunst haben die brennenden Fragen zur Ressourcenverschwendung, zum Verlust der Biodiversität, zur Verschmutzung und Zerstörung von Lebensraum sowie zum Klimawandel bis heute nicht «entdeckt», geschweige denn in den breiten Diskurs aufgenommen. Nachhaltigkeit ist ein Randthema und hat bislang kaum ernstzunehmende ästhetische Ideen hervorgebracht. Aber Welzer hat eben nur fast recht, denn auch er übersieht die Köche.

So wie die (etwas arrogante) Kulturszene, deren mediale Beobachter und deren Käufer ignorieren, dass weltweit Köche an der Etablierung einer völlig neuen und radikal nachhaltigen Ästhetik arbeiten. Beinahe alltäglich bringen Köche neue Geschmäcker, also lokale Ingredienzien unter die Leute. Ständig präsentieren Künstler wie Heinz Reitbauer im Wiener Steirereck neue Ideen zur Schönheit. Sie erschaffen damit radikal neue Erscheinungsbilder und entkitschen ganz nebenbei die Auseinandersetzung mit der Natur. Damit ist die experimentelle internationale Küche zu einem Treiber der kulturellen Entwicklung geworden, die als Leitstern für die Etablierung einer weit gefassten nachhaltigen Ästhetik zu verstehen ist. Ich habe mich schwer geirrt: Kochen ist Kunst. Kochen ist Politik. Kochen kann verändern.

Martin Hablesreiter

Fooddesigner
Ausgabe: Salz & Pfeffer 7/2020 / Datum: 24.11.2020


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