Anschnitt

Veganes Gemüse – Romantik pur

Seit der Pandemie gärtnern viele Stadtmenschen auf dem Balkon, pflanzen Tomaten, Kabis oder Salat im Vorgärtchen und erkennen, wie viel Arbeit dahintersteckt. Selbst geerntetes Gemüse ist nicht anonym, die Produktkenntnis steigt. Bestätigt wird dies durch wissenschaftliche Studien, klar, auch für Soziologinnen und Kulturwissenschafter bietet die Krise fruchtbare Betätigungsfelder. Nach der Forderung, die Achtung vor Tier und Mensch in der Lebensmittelproduktion zu wahren, ist es auch bitter nötig, dem scheinbar schlichten Gemüse gebührlichen Respekt zu zollen.

Dann war in einer überregionalen Zeitung von einem jungen Bauernpaar – bestehend aus zwei Grossstadtaussteigern – zu lesen, das den Anbau von veganem Gemüse pflege. Der Dünger sei nicht tierisch, also keine stickstoff-und mineralienreiche Gülle oder gar andere Hilfsmittel wie Knochenmehl. Ehrfurcht vor Tier und Pflanze, romantisch auf dem Acker vereint: Da fühlt sich mancher Mensch gleich doppelt gut.

Für den Naturwissenschafter drängen sich beim Begriff «veganes Gemüse» aber doch Fragen auf. Natürlich funktioniert Düngung ohne Tier. Luzerne (auch: Schneckenklee) pflanzen, Fruchtfolgen, Tiefpflügen und Brache sind die Klassiker der Bodenkultivierung. Exakt austarierte Kunstdünger natürlich auch, erst recht dann, wenn der Ertrag stimmen muss. Ganz ohne Tier funktioniert der Anbau aber nie: Steht Gemüse ohne Insekten und Würmer auf Äckern, bleibts im wahrsten Sinne des Wortes fad. Erst der pausenlose Angriff der Herbivoren auf Blatt, Frucht und Wurzel aktiviert die pflanzeneigene Chemiefabrik. Zur Abwehr der Fressfeinde werden massenweise chemische Kampfstoffe produziert, die Menschen gefallen: Phenole, Polyphenole, Tannine und intensive Aromen für Gesundheit, Geschmack – und vor allem zur Steigerung unserer Esslust.

Thomas Vilgis

Physiker am Max-Planck-Institut für Polymerforschung
Ausgabe: Salz & Pfeffer 6/2020 / Datum: 13.10.2020


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