Anschnitt

Gastronomie im Krisenmodus

Meine Erfahrungen mit russischer Küche sind bescheiden, veraltet und durchwachsen. Als ich mir 1985 Moskau und Leningrad anschaute, war die Verpflegung deftig, der Wein schwer. Dass ich mir auf dem Aeroflot-Rückflug eine Fischvergiftung zuzog, gehört auch zur Wahrheit. Später konnte ich auf der Madrid Fusión, der spanischen Ess-Messe, russische Köche bei der Arbeit beobachten. Sie hatten was drauf. Kenner berichteten mir zudem, dass sich die Gastroszene Moskaus prima entwickelt habe und die kulinarische Tradition des europäischen Ostens hierzulande massiv unterschätzt werde. Die World’s 50 Best Restaurants gaben sich Mühe, derlei Engagement zu würdigen und hatten ihre 2022er-Präsentation ziemlich blauäugig in Kreml-Nähe geplant, bevor ihnen der Krieg einen Strich durch die Rechnung machte. Für die Köchinnen und Köche Russlands sieht es nicht rosig aus, für jene in der Ukraine rabenschwarz.

Aber darf man über Essen reden und schreiben, darf man elaborierte Menüs geniessen, wenn fast nebenan Menschen hungern und sterben? Der Berliner Gastronom Bernhard Moser übt den Spagat. Soeben eröffnete das unter seiner Beteiligung konzipierte Restaurant Sodazitron, aber nebenbei stand der Mann mit seinem Team am Hauptbahnhof der deutschen Metropole, um selbstgeschmierte Brote für ukrainische Geflüchtete zu verteilen. Mit solchem Engagement ist Moser nicht allein: Gastronominnen und Hoteliers kümmern sich in überdurchschnittlichem Masse, stellen Zimmer zur Verfügung, kochen Suppe. Nicht nur in Deutschland, auch in Polen oder Ungarn, also überall dort, wo die in Not geratenen Menschen eintreffen. Weder der russischen noch der ukrainischen Gastronomie können sie derzeit behilflich sein, doch der bewiesene Zusammenhalt gibt Hoffnung. Das gilt nicht zuletzt auch für die Schweiz, wie der aktuelle Beitrag von Monsieur Tabasco zeigt.

Wolfgang Fassbender

Gastronomie- und Weinjournalist
Ausgabe: Salz & Pfeffer 2/2022 / Datum: 05.04.2022


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