Noch lange nicht abgetischt

Sie ist eine Küchenlegende. Nach 25 Jahren trifft Monsieur Tabasco sie wieder. Und stellt fest: Manchmal ist die Erinnerung an jemanden schmeichelhafter als die Realität.
Text: Monsieur Tabasco
Veröffentlicht: 01.09.2020 | Aus: Salz & Pfeffer 5/2020

«Ich höre immer noch, wie sie über die junge Angestellte lästert, die den Nebentisch abräumt. Schade, dass wir eingekehrt sind, denke ich.»

«Lass uns reinschauen», sage ich zu meinem liebsten Eheweib auf dem Sozius, «eine wie sie stirbt nie, und solange sie lebt, ist sie auch da.» Ausserdem kann ein Kaffee nicht schaden, bevor wir die kurvigste Strasse der Schweiz unter die Räder nehmen. Ob sie noch gastgibt? Als ich die Legende vor 25 Jahren fürs Salz&Pfeffer porträtierte, war sie über 50. Aber eine wie sie lässt erst los, wenn es sie abtischt.

Wir nehmen am untersten Gartentisch Platz. Drei der fünf Tische sind besetzt. Ganz oben, neben dem Eingang zum Restaurant, sitzt eine kleine Frau in einem Gartenstuhl und hat das Geschehen unter Kontrolle. «Ist sie es?», fragt mein liebstes Eheweib. «Keine Ahnung», antworte ich und google. 78 müsste sie sein, aber die dort oben sieht jünger aus. Andererseits: So wie sie mit den Gästen am ersten Tisch spricht, ist sie zweifellos eine, die stets recht hatte, Recht einforderte und recht bekam. Selbst wir am untersten Tisch verstehen sie klar und deutlich: «27-jährig, aber hat noch nie gearbeitet. Ein nettes Mädchen, eigentlich, aber 27, und noch nie eine Hand gerührt!»

Sie steht auf und kommt zu uns. Tatsächlich, sie ist es. Die Schweizer Legende. Ihre letzten 15 Lebensjahre hat sie geschickt wegkaschiert. Sie geht langsamer, sie ist kleiner geworden, aber sie blickt immer noch in die Welt mit diesen unglaublichen Augen, geformt wie pures Lachen, gefärbt wie blankes Gletschereis. 1965 hat sie in einem Kaff weitab vom Schuss einen Mann und die Knelle seiner Grossmutter übernommen. Der Mann lebt noch, die Knelle ist in der Gilde und bei Gault-Millau, das Kaff kennt man dank ihr schweizweit. Sie war stets selbstbewusst, charismatisch und gspürig. Egal in welchem Raum, sie bestimmte das Wetter darin.

Die Legende gibt unsere Bestellung ins Haus, setzt sich wieder in ihren Stuhl und parliert weiter. Eine junge Servicefachangestellte räumt den Nebentisch ab. Einer der Gäste fragt die Legende etwas. Wir hören ihre Antwort, in der Muttersprache der Gäste, die auch ihre eigene Muttersprache ist: «Nein, sie ist eine Gelernte. Aber alles muss man ihr sagen. Alles. Von allein macht die gar nichts. Arbeitet wie eine Lehrtochter, aber natürlich will sie den vollen Lohn einer Gelernten.» Die junge Servicefachfrau hört alles, zeigt aber keine Reaktion. Wahrscheinlich versteht sie die Muttersprache der Legende nicht. Darum kann diese ungeniert vor den Gästen über sie ablästern – in einem Tonfall, der in Kauf nimmt, dass die junge Frau trotzdem spürt, dass von ihr die Rede ist.

Beim Bezahlen oute ich mich als alter Salz&Pfeffer-Streuer. Der Blick der Legende hellt sich auf. «Jaja, natürlich erinnere ich mich. Salz&Pfeffer hat drei Mal über mich geschrieben.» Sie fragt, was ich seither so gemacht hätte. Ich berichte: freier Autor, Kolumnist, Texter. «Das kann aber ja nicht alles sein», sagt sie herausfordernd. Ich konkretisiere. Ich schreibe unter anderem seit 20 Jahren für DRS / SRF. Kaktus, Giacobbo /Müller, Zweierleier mit Birgit und WAM, Timo&Paps, aktuell Staffel fünf meiner eigenen Kinderkrimiserie für Zambo. «Ja und sonst? Nichts?» Moll, schon, da waren noch drei Kilo Autobiografie für Anton Mosimann. Und ein Roman. Das dritte Buch ist in Arbeit. «Aha, also. Schicken Sie mir den Roman, signiert! Und jetzt kommt in unseren Saal, vieles ist neu.»

Der kleine Saal ist toll, der Blick übers Tal prächtig. «Schaut euch Zimmer zwei an», sagt sie und drückt uns den Schlüssel in die Hand. Das Zimmer ist wunderbar, man verzeiht der Legende das Fishing for Compliments und lobt, bis sie zufrieden ist. «Nach Corona haben wir sehr gut angefangen», sagt sie dann, ohne dass wir nachgefragt hätten, «sehr gut, wirklich sehr gut haben wir angefangen.» Sie betont es verdächtig oft. Sowohl der Speisesaal wie auch das Restaurant sind menschenleer, aber gut, es ist Mittwochmittag. Im Haus begegnen wir zwei, drei eher schweigsamen Mitarbeitenden. Man kann auch aufrecht gehen und trotzdem gebückt wirken, denke ich mir. Zum Ciao dann die letzte Mahnung: «Buch nicht vergessen! Gegen Nachnahme und mit Widmung!» Als wir den Töff satteln, sage ich zu meinem liebsten Eheweib: «Der Roman interessiert sie kaum. Aber sie weiss, was Autoren schmeichelt.»

Ich habe ihr das Buch nicht geschickt. Es widerstrebt mir. Ich höre immer noch, wie sie über die junge Angestellte lästert, die den Nebentisch abräumt und kein Wort versteht. Schade, dass wir eingekehrt sind, denke ich. Ich hätte sie lieber als jene Legende in Erinnerung behalten, die zu bleiben sie verdient hätte. Daheim google ich sie noch einmal und stosse auf das grosse Kochbuch, das ihren Namen trägt. Ich lese die letzten Sätze eines Vorwortes: «Was ich ihr wünsche, ist Gesundheit – und endlich die verdiente Pension. Aber sie kann nicht loslassen, das ist sehr schwierig für sie. Das Restaurant ist eben ihr Kind.» Geschrieben hat es vor sechs Jahren die Küchenchefin, die seit 23 Jahren dafür sorgt, dass das Restaurant kulinarisch glänzen kann – und damit auch ihre 78-jährige Schwiegermutter.



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