Nach dem Trink ins Zimmer
Die Gastronomie schreibt Liebesgeschichten! Jene von Anton Mosimann, zum Beispiel. Oder von Monsieur Tabasco höchstpersönlich.
Wie Humor ist auch Höflichkeit ein Luftkissen.
Niemals würde Mr. Tabasco seine deutschen Miteuropäerinnen und Miteuropäer pauschal der Unfreundlichkeit bezichtigen. Als Schweizer ist er präventiv unterwürfig wie viele Kleinstaatler, sprich: genauso herablassend wie Grossstaatler, aber mehr so von unten herauf, mit einem lautlos hinausgetrotzten «Wir-sind-auch-gross-im-Fall!».
Wenn aber Der Spiegel eine «mürrische deutsche Leitkultur» postuliert, zitiert Mr. Tabasco selbiges mit vergnügter Unschuldsmiene. Die Prügel kassiert an seiner Stelle die Spiegel-Autorin Ferda Ataman, die wohlweislich nicht «Deutsche sind Rüpel» schrieb, sondern «Wir sind Rüpel. By nature». Wer sich selber mitmeint, darf Machete, wer nur die andern meint, darf bestensfalls Florett.
Ataman wollte Machete. «In Deutschland gilt schon als gastfreundlich, wer an der Tür ‹Na, dann komm mal rein!› stöhnt», heisst es da. «Offenbar brauchen wir Deutschen erst einen triftigen Grund, um uns manierlich zu benehmen.» Und: «Das bisschen Höflichkeit, das wir an den Tag legen, haben vermutlich die Ausländer mitgebracht.»
Zur Beruhigung der Schnellempörten: Jaja, Ekelbrocken gibts überall. Jaja, Höflichkeit ist auch eine Frage der Generation. Davon, ob man auf dem Land, in der Vorstadt oder downtown aufgewachsen ist. Und ob man in der Kinderstube als Grundgefühl Dankbarkeit vermittelt bekam oder Stolz.
Aber Kinderstuben sind mitgeprägt von Umfeld, Schule, Peergroup, Zeitgeist, nationaler Biografie, kollektiver Befindlichkeit und regionalem Durchschnittstemperament. Am Berliner Familientisch kriegt das Kind nun mal seltener sahnigen Wiener Charme aufgetischt, Pariser Schmelz, südländische Begeisterungsfähigkeit, britisch trockenes Live-and-let-live.
Atamans Grantel-Behauptung wird von Hunderten von Kommentaren bestätigt. «Lieber klare Kante und Ehrlichkeit als hinterlistige Höflichkeit.» Viele sind liebenswürdig selbstentlarvend: «Ich bin immer höflich. Selten so einen Mist gelesen.» Weitere Hunderte pflichten der Autorin bei, die meisten mit der Anmerkung, ihre deutsche Unterkühltheit falle ihnen vor allem bei der Rückkehr aus dem Ausland auf. Am höflichsten sind die Kommentare der weit Herumgekommen.
Selbst ein wenig Schweiz war darunter: «Als Gast beziehungsweise Kundin war ich schon versucht, um Entschuldigung für die Zumutung zu bitten, die meine Bestellung für mein Gegenüber darstellen musste. Dabei fühlte ich mich an den schweizerischen Kabarettisten Emil Steinberger erinnert.»
So wie weiland Mr. Tabasco, als sein Ohr Folgendes vernahm: «Wenns vo däm Dessert da au halbi Portione gäbti, dänn hätti no Luscht druf.» Und: «We mer no e Schieber würde mache, würd äch öpper hälfe?»
Vorauseilende Unterwürfigkeit mag unfreiwillig komisch sein, zeitraubender Wortmüll ist sie nicht. Sie will auf sicher gehen, nicht verletzen wie die gnadenlos effizienten «Platz da!»-Bestellungen der Klarsprecher. Bei Lob & Tadel gilt Ähnliches. «Ned gschimpft, ist globt gnua» mag für Bayern reichen.
Aber man platziere das «kann man essen» aus Ostwestfalen mal in den USA, da bricht Honey in Tränen aus. Wie Humor ist auch Höflichkeit ein Luftkissen, das zwar nur aus Luft besteht, gelegentlich aus heisser, das aber die Stösse des Lebens abdämpft. An der klaren Kante holt man sich eher Schnittwunden.
Dem Gast, der nehmen möchte, ist es nicht verboten, vorher zu geben. Herzlich grüssen, freundlich Bitte und Danke sagen. Mit Blickkontakt. Den anderen Gästen einen «guten Appetit» wünschen. Beim Service Vorfreude demonstrieren. Beim Abräumen aufsehen, den Kopf drehen, dem Kellner in die Augen schauen und sich bedanken, bei jedem Gang – und auch wenns nur ein Praktikant ist. Der hat ebenso Respekt verdient.
Gute Gäste bezeichnen mittelmässiges Essen als gut, gutes als hervorragend, hervorragendes als sensationell, dazu ergänzen sie ihr Urteil situativ mit «grosses Kompliment in die Küche» und allenfalls mit «und eins in den Service, ihr macht das prima».
Man bekommt ein Strahlen und ein Danke zurück, und bei der Rückkehr an den Tisch ist der Schritt der Kellnerin beschwingter. Zum Adieu gehört ein freundliches Danke und situativ ein «Schönen Feierabend» oder «nüme z sträng», oder was auch immer passt. Und alles mit einem Blick in die Augen der Menschen. Das klappt auch an der Rezeption.
Und wenn Service oder Futter lausig waren, gibts eine nachträgliche Kritik oder Bewertung per Mail oder in einer Echokammer wie Swiss Qualiquest. Zweitens, weil zeitliche Distanz die Kritik versachlicht, und erstens, weil man Kritik auf diese Weise richtig adressieren kann und nicht die Kellnerin senkelt, obwohl man die Tüte am Herd meint.
Klare Kante gehört in die Politik und in die Satire, aber nicht ins Zwischenmenschliche. Wer einen kurzen Smalltalk statt als Anlasser für die Beziehung nur als Dampfgeplauder versteht, wer das Gegenüber nur als wandelnde Funktion behandelt, wer komplett taub ist für Verklausuliertes, Indirektes und unausgesprochen Gesagtes, taugt nicht zum Gastgeber und nicht zum Gast.
Von wegen Gastlichkeit – den Slogan des Jahrhunderts haben die Rüpel by nature geschrieben. An der Fussball-WM 2006. «Die Welt zu Gast bei Freunden»: Das war die Sternstunde eines Texters, und die Umsetzung war die Sternstunde einer Nation. Ein grosses Lob in die Küche.