Wogegen noch anzuessen wäre

Vom Schwein und vom Rind war gestern. Heute essen wir fürs Klima und die Kleinbauern, für den Freihandel und eine schlanke Figur.
Text: Monsieur Tabasco
Veröffentlicht: 16.10.2018 | Aus: Salz & Pfeffer 7/2018

Die Menschheit hat dieses Jahr angefangen, mit dem Aussterben aufzuhören.
Manuel bedeutet «Gott ist mit uns». Manuel steckt in einem T-Shirt in Lila, der Farbe der Busse und der Spiritualität. Er trägt dosiert ungezähmte halblange Haare, ein dosiert getrimmtes halbdichtes Bärtchen und kommt nicht aus Nazareth, sondern von der ETH Zürich wie die anderen Co-Founders seines Spin-offs Eaternity. Eaternity ist ein Wortspiel von «essen» und «Ewigkeit», und die Website sagt, was Sache ist: «Rettet die Erde – über die Bedeutung der Nachhaltigkeit bei Lebensmitteln, um das Aussterben der Menschheit zu verhindern.»

Nach langjähriger Mise en Place, freundlich begleitet von Bund, Migros und Medien, hat die Menschheit dieses Jahr angefangen, mit dem Aussterben aufzuhören. Sie kann jetzt klimafreundlich essen. Dank der Erdrettungsapp Eaternity. Die Gottgesandtheit bei der Präsentation von Eaternity ist verzeihlich angesichts des Durchhaltevermögens, das die jungen Entwickler und Datensammlerinnen benötigten: Eaternity kennt die CO2-Bilanz von 76 000 Menüs aus 4600 Nahrungsmittelkomponenten, bei denen sie jeweils die Klimarelevanz von 50 bis 60 Schritten in Herstellung, Verarbeitung und Logistik berechnet hat, und zwar bis hin zur Kilometerzahl des Traktors. Nicht dass Manuel bei jedem verrosteten sizilianischen Schrotthaufen die Nase in den Auspuff gesteckt hätte, aber auch anderswo in der Klimaforschung muss man sich mit Annäherungen und Schätzungen zufriedengeben.

Einige hundert Gastgeber arbeiten bereits mit Eaternity, von Fabian Fuchs im Equitable bis hin zur Stadt Zürich, die in sechs Personalrestaurants während acht Wochen die CO2-Verschuldung der Menüs um 19 Prozent zu senken vermochte, was dem Verbrauch von 3400 Litern Heizöl entspricht. Zwei von drei Gästen fanden das Projekt «gut bis sehr gut», wobei die Analyse nicht ergab, ob die Begeisterung der Schmackhaftigkeit der Gerichte geschuldet sei oder dem erleichterten Gewissen beim Besteigen des SUV nach dem Dessert.

Einige Erkenntnisse der CO2-Berechnungen von Eaternity sind Gemeingut: saisonal, regional, pflanzlich statt tierisch. Andere sind überraschend interessant. Bio-Rindfleisch belastet das Klima um 50 Prozent mehr als konventionelles Rindfleisch. Natürliches Futter und mehr Auslauf verlangsamen nämlich das Wachstum, verlängern die Mastdauer und erhöhen damit den Methan-Ausstoss. Mehr Kraftfutter und weniger Auslauf sind gut fürs Klima. Ein echter Clinch für Tierschützerinnen und Slowfooder.

«Dämfall weniger Fleisch», wird sich jeder klimasensible Mensch sagen, der noch einen Transatlantikflug kompensieren möchte. Also Gemüse. Tomaten. Aus dem Tetra Pak. Weil Tetra klimafreundlicher ist als das Gewächshaus, aus dem die Tomaten in drei von vier Jahreszeiten kommen. Dieser Clinch betrifft nun eher die Gourmets, die Verpackungsvermeider und die Linke – Schweizer Gewächshaustomatenpflücker werden fairer bezahlt als die migrierten Plantagensklaven in Spanien oder Marokko.

In diesen Clinchs liegt des Pudels Kern begraben. Ist der CO2-Ausstoss wichtiger oder das Tierglück? Will man Pflanzenschutzmittel reduzieren oder Ausschuss vermeiden? Will man Verpackungen vermeiden, damit aber die Haltbarkeit verkürzen und also den Food Waste erhöhen? Kauft man solidarisch Schweizer Honig und bringt damit die Fairtraide-Imker in Nicaragua um ihr Einkommen? Lässt man solidarisch Bergbauernbutter von Pro Montagna aus dem Münstertal herandieseln? Gespritztes von nah oder bio von fern? Nimm man zugunsten einer besseren Klimabilanz Importwaren aus einem Land in Kauf, dessen korrupter Kotzbrockenpräsident sich einen Deut um Menschenrechte schert?

Not tun neue Speisekarten. Nicht mehr «vom Schwein», «vom Rind», «vom Kalb», «aus dem Meer» und «für unsere kleinen Gäste» wie früher, sondern «für das Klima», «gegen Antibiotika», «für die Schweiz», «für das Tierwohl», «für die Kleinbauern», «für die Dritte Welt», «für die Sortenvielfalt», «gegen die Verpackung», «fürs überschaubare Budget» und «gegen eine unübersehbare Silhouette». Da können die Gäste am Montag gegen die Klimaerwärmung anessen, am Dienstag für den Tierschutz, am Mittwoch für Kleinbauern und Sortenvielfalt, am Donnerstag für die Figur, am Freitag gegen Verpackungen, am Samstag billig für die freie Marktwirtschaft und am Sonntag teuer für den Genuss.

Zu bemessen wären dann auch die klimarelevanten Effekte der Nahrungsmittel nach dem Verzehr, Methan-Emissionen nach dem Lauchgratin oder der erhöhte Sauerstoffverbrauch und CO2-Ausstoss bei aphrodisierenden Lebensmitteln aufgrund libidinösen Keuchens. Neue Apps wären nützlich für weitere Reiter der Apokalypse: Feinstaub und Stickoxide, Mikroplastik, Krebsrisiko, Elektrosmogbelastungen, gern auch die angesagtesten Unverträglichkeiten. Und wahrscheinlich ebenfalls für das Risiko klimaschädlicher Burnouts von Köchen, Wirten sowie F & B-Managern.

Eaternity macht transparent und hilft damit bei der Entscheidungsfindung, gut so. Nur der Weltrettungspathos ist diskutabel. Wir stehen kurz vor dem Moral-Overkill, und das Letzte, was die Welt braucht, ist die Scheiss-drauf-Haltung jener, die dem Moralstream zleid Cheeseburger fressen, die Abfallkübel mit To-go-Müll verstopfen und sich dabei für wahnsinnig unabhängig halten, obwohl sie nur überfordert und abgelöscht sind.



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