Boomende Früchtchen

Intensiv im Geschmack, originell im Aussehen, spannend in der Aromatik: Alte und rare Beerensorten bergen grosses kulinarisches Potenzial, das auch die Gastronomie für sich entdeckt. Ein Besuch im Schaugarten von Pro Specie Rara.
Text: Sabrina Glanzmann – Fotos: Claudia Link
Veröffentlicht: 21.08.2018 | Aus: Salz & Pfeffer 5/2018

«Die Pflanzen sind mehr sich selbst überlassen, müssen die Nährstoffe selber aus dem Boden holen.»
Die intensive Säure kommt mit dem ersten Biss. Beim zweiten wird es süsser, und das zarte Aroma erinnert erst an Apfel, dann an Zitrone und ein wenig an frisches Gras. Die Form ist verblüffend: Ist dieser pralle, sattrote Tropfen wirklich eine Johannisbeere? «Ja, diese ausgeprägte Tropfenform findet man vermutlich nur bei dieser Sorte. Sie wurde 1875 in Riga gezüchtet und galt lange als verschollen, bis wir sie kürzlich mit Hilfe tschechischer Fachliteratur bestimmen konnten», sagt Claudio Niggli.

Der Biologe ist Projektleiter Beeren bei der Stiftung Pro Specie Rara (PSR), die sich seit über 30 Jahren für die Erhaltung von raren, vom Aussterben bedrohten Nutztierrassen und Kulturpflanzen einsetzt. An diesem heissen Julinachmittag gibt Niggli einen Einblick in die Nationale Beerensammlung der Stiftung, in der in einem Schaugarten im baslerischen Riehen 300 Sorten zugänglich sind – wie die Göggingers Birnenförmige alles Rare, Alte oder als verschwunden Geglaubte, was die etwas versteckte Parzelle am Rande eines Wohnquartiers wortwörtlich zu einem Beerenfeld der spezielleren Art macht.

Seit 1997 werden hier Pflanzen von verschiedenen Quellen (die Hälfte davon sind private Gärten) zusammengetragen, systematisch beobachtet, beschrieben und erfasst. Wie stark wächst eine Pflanze? Wie sehen ihre Blüten aus? Wann sind die Früchte mit welchem Ertrag reif – und wie schmecken sie? Die Antworten auf solche Fragen sollen helfen, ein möglichst umfassendes Bild der alten Sorten und wichtige Erkenntnisse für deren Anbau und Nutzung zu gewinnen.

Dabei sichert das Team um Claudio Niggli und Martin Frei als Sammlungsbetreuer vor allem einheimische und ausländische Sorten von Beerengruppen ab, die seit den ersten Kultivierungen in der Schweiz traditionell angebaut wurden. Heidelbeeren findet man in Riehen deshalb keine, dafür über 50 Jahre alte Stachel- und Johannisbeerensorten. Bei den Erdbeeren, Himbeeren und Brombeeren liegt die Richtlinie bei 30 Jahren, weil sich diese schneller züchten lassen und ihr Kulturzyklus kürzer ist.

Beeren boomen: Laut dem Schweizer Obstverband Swissfruit steigt die Nachfrage seit Jahren kontinuierlich, was sich auch an den Anbauflächen zeigt. 860 Hektaren Erd- und Strauchbeeren wurden heuer landesweit angebaut, 2016 waren es noch 826 Hektaren. Besonders gross ist der Appetit auf Erd- und Himbeeren, für dessen Stillung trotz wachsendem heimischem Angebot eingeführte Produkte eine wichtige Rolle spielen: 2017 stand dem Ertrag von rund 5900 Tonnen Schweizer Erdbeeren ein Importvolumen von etwa 14 500 Tonnen gegenüber – vor allem von ertragreichen Standardsorten.

Vor diesem Hintergrund bespielt Pro Specie Rara mit ihrem Fokus auf frei zugängliche Sortenvielfalt, Traditionswahrung und Rarität eine alternative, nicht zuletzt für Köche und Gastronomen spannende Nische: «Mit mehr Sortenvielfalt entsteht auch eine grössere aromatische und visuelle Bandbreite. Ausserdem ist bei alten Sorten die Konzentration an Geschmacksstoffen und gesunden sekundären Pflanzenstoffen im Schnitt höher», sagt Niggli. Das habe einerseits damit zu tun, dass sie oft nicht mit dem Ziel der Massenproduktion gezüchtet wurden.

«Ertragsmaximierung bedeutet bis zu einem gewissen Grad auch eine Verwässerung der Inhaltsstoffe», so der Biologe. Andererseits würden alte Sorten eher in kleineren Kulturen angebaut, die nicht ständig bewässert und gedüngt würden. «Die Pflanzen sind mehr sich selbst überlassen, müssen die Nährstoffe selber aus dem Boden holen, und der Ertrag wird gehaltvoller.»

Die Poorman ist eine amerikanische birnenförmige Stachelbeerkreuzung aus dem Jahr 1888. Aromatisch lehnt sie sich an Gartenerdbeeren und Americana-Trauben an.
Die geschmacklich eher milde Schwarze Himbeere von Frenkendorf gehört zu den noch unbestimmten Sorten in der Nationalen Beerensammlung. Sie erinnert an Maulbeeren mit leichtem Dörrobst-Aroma.
Die bernsteinfarbene Cassis blanc entstand in Frankreich aus einer alten Sorte schwarzer Johannisbeeren. Das Besondere: Mit ihren Limetten- und Grapefruitaromen ist sie für eine Cassis erstaunlich zitrusbetont.
Die Göggingers Birnenförmige wurde um 1875 im lettischen Riga vom Handelsgärtner Heinrich Gögginger gezüchtet. Dank ihrer speziellen Tropfenform und einem hohen Zuckergehalt eignet sie sich besonders zum Dekorieren und für den Frischverzehr.
Prüfender Kennerblick: Claudio Niggli, Projektleiter Beeren bei Pro Specie Rara, ist Experte für die Erhaltung alter Beerensorten.
Die aus Frankreich stammende, süss-saure Rose de Champagne ist vollreif sehr zuckerreich, mit Aromen von Grapefruit und dezenten Holunderblüte-Noten. Die Sorte ist besonders pflegeleicht und sehr wüchsig.
Die Grüne Riesenbeere ist um 1820 in England unter dem Namen Jolly Angler entstanden und heute sehr selten. Sie schmeckt intensiv süss-sauer und hat eine dicke, feste Schale.

«Alte Sorten sollen eben nicht nur im Elfenbeinturm der Wissenschaft erfasst sein.»
Der Beerenprofi zeigt auf die alte französische Johannisbeersorte Cassis blanc. «Am Anfang erscheint sie mit Holunderblütenaromen und leicht krautig, dann wird es säurebetonter mit Limetten- und Grapefruitaromen. Für eine Cassis ist sie sehr auf der zitrusbetonten Seite.» Oder zurück zur Göggingers Birnenförmige: Mit ihrem hohen Zuckergehalt und der gleichzeitig ausgeprägten Säure biete sie sich gut für den Frischverzehr an und dank ihrer Form besonders für die Dekoration. 


Letzteres gilt auch für die Cassis blanc, die ihrem Namen zum Trotz in den schönsten Bernsteinfarben schimmert. Bei den Stachelbeeren erinnert die amerikanische Kreuzung Poorman in der Degustation verblüffend stark an Erdbeeren: «Genau», sagt dazu Niggli, «hier zeigen sich Aromen von Gartenerdbeeren und Americana-Trauben. Für Köche vielleicht eine attraktive Kombination?»

In einigen Profiküchen sind die alten Beerensorten bereits angekommen: In Andreas Caminadas Garten auf Schloss Schauenstein zum Beispiel hat die Erdbeere Wädenswil Nr. 6 einen Stammplatz. «Meine Nachbarin hat sie bereits vor 20 Jahren in unserem Garten angepflanzt. Die Sorte ist geblieben, denn ich finde die Erdbeeren schön intensiv und aromatisch grossartig. Bei Reife ist die Textur eher weich, sodass man sie nach dem Pflücken sofort verwenden sollte», sagt der Bündner Spitzenkoch. «Am liebsten esse ich sie eh direkt ab der Pflanze. Im Restaurant brauchen wir die Beeren aber natürlich auch: Hauptsächlich für Törtchen oder in den Kuchen für die Remisa.»

Im Eco-Hotel Cristallina in Coglio nahm man 2008 einen Erweiterungsumbau zum Anlass, einen Garten inklusive alter Beeren anzulegen. Zusammen mit den Experten von Pro Specie Rara suchte Gastgeber Marco Kälin Sorten aus, die sich für das Klima im Tessiner Maggiatal besonders gut eignen – darunter die rosafarbene Johannisbeersorte Rose de Champagne, die als pflegeleicht, sehr wüchsig und robust gilt, oder die Cassis-Sorte Schwarze Langtraubige. Rund 25 Kilogramm eigene Beeren – PSR-Sorten und andere – werden im Cristallina in einer Saison geerntet.

Davon friert das Küchenteam den grössten Teil ein und verarbeitet ihn während des Jahres weiter, etwa zu eigener Glace oder zu Coulis für Desserts. Marco Kälin schätzt die Vielfalt und die unproblematische Pflege der Pflanzen. «In der Saison müssen wir allerdings jeden zweiten Tag eine halbe Stunde für das Pflücken einplanen. Was hier also am meisten kostet, ist die Handarbeit. Dessen muss man sich bewusst sein, aber für uns lohnt sich dieser Aufwand allemal, wenn wir den Gästen damit etwas Besonderes bieten können.»

Vereinzelt wurde PSR-Experte Claudio Niggli auch schon von Köchen und Produzenten kontaktiert, die mehr über die alten Sorten erfahren möchten. So hatte er etwa Besuch von Diversitas-Projektleiter Tobias Zihlmann (siehe Salz & Pfeffer 4/2018) und Simon Müller aus Basel, dessen hochwertige Öle in hiesigen Spitzenküchen rege zum Einsatz kommen. Bei der Besichtigung wurde der Oelist auf Cassisholz und -knospen aufmerksam und nahm mehr aus Neugier etwas davon «zum Rumpröbeln» mit. «Die Aromen kamen in neutralem Mandelöl sehr gut zur Geltung, vor allem beim Versuch mit den Knospen. Auch wenn ein solches Öl zu teuer käme für den Verkauf: Es war ein spannender Lehrgang über die ausgeprägten Aromen alter Beerensorten», sagt Simon Müller. Optimal haltbar sei ein solches Öl zwischen sechs und neun Monaten – «meines hat noch nach zwei Jahren intensiv nach Cassis geschmeckt.»

Niggli möchte in naher Zukunft stärker mit Köchen und Verarbeitern zusammenspannen. Er plant beispielsweise, Sichtungen durchzuführen, bei denen gezielt die sensorischen und gustatorischen Aspekte der Beeren und ihr Potenzial für die Verarbeitung im Zentrum stehen. Ähnliche Wege geht Pro Specie Rara bereits mit dem Gastroprojekt Raronautik für seltene Gemüsesorten und Tierrassen. «Alte Sorten sollen eben nicht nur im Elfenbeinturm der Wissenschaft erfasst sein, letztlich bleiben sie langfristig erhalten, wenn man sie nutzt», Claudio Niggli und schaut nochmals rüber zur Göggingers Birnenförmige. «Die robuste und wüchsige Sorte eignet sich übrigens besonders gut für Höhenlagen. Zum Beispiel für ein Hotel oder Restaurant in den Bergen?»

Bezugsquellen – eine Auswahl

Neben der Nationalen Beerensammlung von Pro Specie Rara tragen private Sortenbetreuer zur Erhaltungsarbeit bei, indem sie in ihren Gärten Vermehrungsmaterial einzelner Sorten pflanzen und weiterverbreiten. Wichtige Multiplikatoren sind auch professionelle Vermehrer wie Baumschulen und Gärtnereien.

Glausers Bio-Baumschule
Limpachmatt 22, 3116 Noflen, 031 782 07 07
www.biobaumschule.ch

Omiobio
Industriestrasse 18, 5242 Lupfig, 056 424 15 10
www.omiobio.ch

Reller Biolandbau
Schossenriet 20, 9442 Berneck, 071 744 43 09
www.reller-bio.ch

Online-Sortenfinder
Gönnerinnen und Gönner von Pro Specie Rara können ausgewählte Beerensorten auch über den Online-Sortenfinder bestellen. Der Versand für die Erdbeeren erfolgt jeweils im August, für das Strauchbeerenobst im November.
www.prospecierara.ch/de/sortenfinder



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