Unterschiede, die man spürt

Christian Vessaz ist ein Pionier des biodynamischen Weinbaus in der Schweiz. Sein Chasselas ist eine Offenbarung, und seine Pinots schaffen es auch in Drei-Sterne-Häusern auf die Karte.
Text: Tobias Hüberli – Fotos: Njazi Nivokazi
Veröffentlicht: 23.06.2020 | Aus: Salz & Pfeffer 3_4/2020

«Ich wollte zuerst das klassische Handwerk beherrschen, im Leben sollte man nicht alles gleichzeitig versuchen.» 

Der Hauptsitz des Weinguts Cru de l’Hôpital liegt etwas ausserhalb des Weindorfs Môtier-Vully, mitten in den Reben und in Sichtweite des Murtensees. Das Gebäude mit dem schicken Betonvordach wirkt auf den ersten Blick wie ein ganz normaler Zweckbau. Doch der Schein trügt. Tatsächlich berücksichtigte Architekt Bernhard Dürig bei der Planung in den Siebzigerjahren die Richtlinien der heiligen Geometrie. Baumeister (insbesondere von Kathedralen) verstehen darunter die Lehre der Welt. Kurz erklärt, glauben sie, dass das Universum nach einem perfekten geometrischen Plan konstruiert ist. Bereits die Ägypter wie auch die Römer und die alten Griechen orientierten sich für ihre Bauwerke an den Grundsätzen der heiligen Geometrie.

«Unser Keller hat die exakt gleichen Proportionen wie der Tempel von Salomon, in dem die Zehn Gebote aufbewahrt waren», sagt Chefönologe Christian Vessaz und freut sich sichtlich über das Erstaunen, das er bei den Besuchern damit erzeugt. Sicher ist: Ein für den biodynamischen Weinbau favorables Umfeld wurde im Cru de l’Hôpital gelegt, lange bevor ihn Vessaz ab 2012 peu à peu einführte. «Die Architektur begünstigt den Energiefluss im Haus, und das wiederum hilft unseren Weinen. Egal, was wir hier ausprobierten; es hat immer von Anfang an funktioniert.»

Vessaz kam direkt aus dem Önologiestudium, als er vor 19 Jahren die Leitung des Weinguts übernahm. «Es war früh und nicht einfach», sagt er rückblickend. Aber die Verantwortlichen – Cru de l’Hôpital gehört der Bürgergemeinde Murten – schenkten ihm viel Vertrauen und eine Carte blanche. «Ich konnte machen, was ich wollte.» Vessaz, der in Môtier-Vully aufgewachsen ist, ging langsam vor, produzierte ein paar Jahre lang konventionell, bis er sich für den biodynamischen Weg entschloss. «Ich wollte zuerst das klassische Handwerk beherrschen, im Leben sollte man nicht alles gleichzeitig versuchen.»

Die in den Dreissigerjahren von Rudolf Steiner entworfenen Methoden der biodynamischen Landwirtschaft sind mittlerweile international anerkannt, auch wenn gewisse Massnahmen, etwa der Einsatz von Kuhhorn im Dünger, etwas abenteuerlich tönen. «Es sind Kräfte, die nicht erklärbar sind, die aber einen Effekt auf unsere Böden und letztlich auf den Wein haben», so Vessaz.

Nur gerade zwölf Prozent aller Schweizer Winzer sind biozertifiziert. Von den biodynamisch produzierenden Weinmachern existieren keine Zahlen, Vessaz schätzt ihren Anteil aber auf zwischen zwei und drei Prozent. In Môtier-Vully sind es mittlerweile drei Winzer von 24. «Zum Glück spürt man beim Wein den Unterschied zu einer konventionellen Produktion», sagt Vessaz. Das mache eine direkte Vermarktung viel einfacher. «So können wir die ganze Wertschöpfung in unsere Böden zurückinvestieren.» Seine 13 Hektaren bewirtschaftet der 43-Jährige ohne jeglichen Einsatz von Pestiziden oder Herbiziden. Erlaubt ist einzig der Einsatz von Kupfer, wobei dieser im Cru de l’Hôpital sehr gering ausfällt. «Gegen den Mehltau spritzen wir pro Jahr etwa zwei Kilo – auf 10 000 Quadratmeter.»

«Es gibt zwei Dinge, die den Wein beeinflussen», so Vessaz. Einerseits sei da die Fotosynthese. Dabei absorbiert die Rebe über ihr Chlorophyll Licht und wandelt es zusammen mit Wasser und Kohlendioxid in Sauerstoff und Glucose um. Letztere bringt den Zucker in die Traube. Der zweite Faktor liegt unter der Erde. Die Wurzeln der Rebstöcke ziehen Mineralsalze aus dem Boden, sie bescheren der Traube die Mineralität und dem Wein seine Komplexität. «Beide Faktoren müssen im Gleichgewicht sein, deshalb sind die Böden derart wichtig.»

Bei der Wahl der Traubensorten vertritt Vessaz eine dezidierte Meinung: «In der Schweiz haben wir zu viel Diversität, wir sollten unseren Fokus auf die Qualität weniger Sorten legen.» Im Fall von Vessaz sind das zweifellos die Chasselas- und die Pinot-noir-Traube.

Beim Thema Chasselas schaut Vessaz aus dem Fenster und sagt dann: «Da muss ich kurz ausholen.» Der typische Schweizer Chasselas wird seit den Fünfzigerjahren vor allem im sonnenreichen Bassin des Lac Léman sowie im Wallis aus reifen Trauben gekeltert. Das Resultat ist ein fruchtiger, runder, aber auch etwas platter Wein, an den sich die Konsumenten irgendwann gewöhnten. Und weil bis 2000 nur sehr wenig Weisswein importiert wurde, sah niemand einen Grund, etwas daran zu ändern. Diese Zeiten sind allerdings vorbei. Das jüngere Publikum bevorzugt heute kräftige, knackige Weissweine, wie etwa einen Sauvignon blanc aus der Pfalz.

«Wir haben uns entschieden, den Chasselas neu zu erfinden, und produzieren ihn deshalb so wie vor den Dreissigerjahren», erklärt Vessaz. Damals wurden die Trauben gelesen und noch in den Reben auf einem Holzwagen durch die Presse gedreht. «Der Wein lag mehrere Stunden auf der Maische, bevor er im Keller ankam.» So entstanden viel Mineralität und Charakter, die später mit modernen Produktionsmethoden wieder verloren gingen.

Im Keller arbeitet Vessaz ziemlich unkonventionell. Ein Teil seiner Weine lässt er auf der Maische, mal mehr, mal weniger lang. «So erhalte ich von der gleichen Parzelle unterschiedlich würzige und unterschiedlich mineralische Resultate, die ich dann zu einem runden Ganzen assembliere.» Gerade im Keller habe das Weinmachen eine intellektuelle Seite. Das Resultat ist zum Beispiel der Chasselas de Fichillien: ein sehr trockener, eleganter und wunderbar mineralischer Weisswein.

Für seinen Pinot noir braucht Vessaz das Rad hingegen nicht neu zu erfinden. «Die Messlatte ist das Burgund.» Von den ganz grossen Weinen aus dem Nachbarland sei man in der Schweiz noch etwas entfernt, sagt er, «aber der Fortschritt ist gross». Dieser spiegelt sich auch in der illustren Kundenliste des Weinguts. National bekannte Sterneköche wie Stéphane Décotterd, Alain Baechler, Franck Giovannini oder Pierrot Ayer lassen zu ihren Speisen Pinots von Vessaz ausschenken.

Etwa 50 Prozent der Produktion – pro Jahr beträgt diese insgesamt zwischen 80 000 und 100 000 Flaschen – gehen denn auch direkt in die Gastronomie. Für Private ist der Einkauf relativ streng plafoniert. Von den Pinots gibts höchstens zwei Kisten, also zwölf Flaschen. «Selbstverständlich wollen wir unsere Weine verkaufen, aber wir wollen eben auch, dass ihn möglichst viele Leute kaufen können», so Vessaz. Die Kunden sollen realisieren, dass es von Gutem nicht unendlich viel gibt. «Nur weil jemand einen Porsche fährt und viel Geld hat, kann er bei uns nicht alles aufkaufen. Dafür haben wir nicht genug Wein.»

Christian Vessaz (43) ist seit 19 Jahren Chefönologe des Weinguts Cru de l’Hôpital. Ab 2012 stellte er den Betrieb schrittweise auf eine biodynamische Produktion um. Den Fokus legt er dabei auf die Sorten Chasselas und Pinot noir. Daneben keltert er auch Pinot gris, Traminer oder Freiburger. Zusätzlich berät er seit 2016 in der Gemeinde Chardonnay im Burgund ein Weingut. Und seit 2019 hat er Einsitz im Vorstand des Schweizerischen Demeter-Verbands.
cru-hopital.ch

Naturwein, aber richtig
«Für guten Naturwein braucht es sehr viel önologisches Wissen, das ist nichts für Touristen», sagt Christian Vessaz etwas salopp und ernst zugleich. Wichtig ist, dass die erste und die zweite Gärung abgeschlossen sind. Nur so bleiben die Weine in der Flasche stabil. Damit etwa sein ohne Schwefel hergestellter Pinot noir Noirien nicht oxidiert, sorgt Vessaz mithilfe von Stickstoff dafür, dass er im gesamten Herstellungsprozess bis zur Flaschenabfüllung möglichst wenig mit Sauerstoff in Kontakt tritt. Das Resultat ist ein unglaublich präsenter Wein, mit komplexem Aroma und langem Abgang, ohne störende Oxidationsnoten. Sehr zu empfehlen ist auch das weisse Pendant, der Chasselas Alloy. Die Naturweine – es gibt zudem einen Pinot gris – machen im Cru de l’Hôpital zurzeit etwa fünf Prozent der Jahresproduktion aus. «Das Ziel sind zehn Prozent», so Vessaz.

Wein nach Demeter-Richtlinien
Im Rebberg sind die Unterschiede zwischen einem Bio- und einem Demeter-zertifizierten Weingut nicht allzu gross. Der Einsatz von Pestiziden und Insektiziden ist sowieso verboten. Zur Schädlingsbekämpfung ist einzig der Einsatz von Kupfer erlaubt. Im biodynamischen Weinbau kommt zusätzlich die anthroposophische Komponente zum Tragen. So wird etwa beim Schneiden der Reben auf die Mondphase geachtet und der Dünger mit Kuhhorn behandelt. Grösser sind die Unterschiede im Keller. Für biodynamischen Wein sind weder Schönungsmittel noch Reinzuchthefe erlaubt. Man setzt auf eine Spontanvergärung. Christian Vessaz beschallt seine Weine zudem regelmässig mit einem Gong, dessen Tonlage mit dem nach den Proportionen der heiligen Geometrie gebauten Keller harmoniert. Zurzeit aktualisiert der Vorstand von Demeter Schweiz seine Richtlinien für die Arbeit im Weinkeller.



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