Wohliger Schmerz

Die Augen tränen, der Gaumen brennt und doch werden Glückshormone ausgeschüttet: Wer Essen feurig würzt, beschert seinen Gästen ein heisses Wechselbad der Gefühle.
Text: Carole Gröflin – Fotos: Tina Sturzenegger
Veröffentlicht: 23.06.2020 | Aus: Salz & Pfeffer 3_4/2020

«Es braucht eine gute Balance zwischen Säure und Schärfe 

Chili und Knoblauch hatten es sich ursprünglich gut eingerichtet: Mit Capsaicin respektive Allicin bauten sie chemische Verbindungen auf, die sie vor natürlichen Fressfeinden schützen: Wer es wagt, in sie hineinzubeissen, wird sofort zurückgebissen – in Form von Schmerz. Denn die scharfen Anteile von Chili, Knoblauch und Co. reizen beim Verzehr die Wärme- und Schmerzzellen der Schleimhaut. Und das tut beim ersten Mal höllisch weh. Dank dieser Abwehr sollte es fortan kein Säugetier mehr wagen, die Früchte zu verschlingen und so die Reproduktion der Pflanze zu stören.

Doch die Natur hatte die Rechnung ohne das perfide Wesen des Menschen gemacht. Dem gefiel die neue temporäre Gefühlsempfindung, und er wollte mehr davon. Weil das Gehirn ihm nämlich vorgaukelt, dass er starken Schmerz empfindet, schüttet es Endorphine und Dopamine aus. Die körpereigenen Schmerzmittel verleihen dem Zweibeiner ein High, ein befriedigendes Glücksgefühl. Zudem wirken die scharfen Gewürze als Geschmacksverstärker: Die gereizten Rezeptoren in den Schleimhäuten werden besser durchblutet. Das wirkt sich bis auf die angrenzenden Geschmacksnerven aus. Diese sind nun empfänglicher für die Geschmacksrichtungen süss, sauer, salzig, bitter und umami. Es gibt beim Essen also eine intensivere Wahrnehmung anderer Aromen.

Doch Vorsicht bei der Dosis: Die Empfindung von Schärfe ist individuell und muss trainiert werden. Die gereizten Nervenenden werden allmählich desensibilisiert und gewöhnen sich an die Schärfe. Was beim Abschmecken für einen geübten Chili-Fan langweilig anmutet, kann am Gaumen von Anfängern gehörig brennen. Sandro Dubach von der Berner Catering- und Eventfirma Roh & Nobel kennt das Problem. «Ich liebe mein Essen schon fast bösartig scharf», erzählt er lachend. Somit kann er sich beim Würzen nicht auf seinen Eindruck verlassen.

Um mit seinen Gerichten möglichst viele Gäste glücklich zu machen, hält sich Dubach an eine einfache Regel: «Es braucht eine gute Balance zwischen Säure und Schärfe.» Soll heissen: Wenn eine Speise genug sauer ist, liegt auch mehr Schärfe drin. So mariniert er ein Fischtatar sowohl mit Limettensaft als auch mit Chili. Gerne verwendet er als Gegengewicht zur Schärfe in Essig eingelegte Früchte. An ihren Events verpflegen Dubach und sein Team jeweils bis zu 500 Personen. Da ist es wichtig, die Toleranz möglichst aller Gäste zu treffen. Daher versehen die Caterer etwa Häppchen erst kurz vor dem Servieren mit dem scharfen Topping: «Dann können wir gleich fragen, ob es etwas schärfer sein soll.» Sollte es doch mal etwas zu viel «fuego» sein, kann die Chili-Salsa nach dem Probieren selber weggenommen werden.

Häufig ist hierzulande jedoch zu beobachten, dass Essen auf dem Tisch vom Gast verschärft wird. Menschen munden Speisen schon lange besser, wenn sie mit einer gehörigen Portion Schärfe versehen sind. Bereits im ersten Jahrhundert nach Christus soll der römische Feinschmecker Apicius seine Speisen mit Pfeffer gewürzt haben. Dem Entdecker Christoph Kolumbus ist es zu verdanken, dass die ersten Paprikapflanzen von Mittel- und Südamerika den Weg nach Europa und später nach Asien fanden. Ingwer und Pfeffer waren dort lange Zeit die einzigen scharfen Gewürze. Heute wäre die indische oder die thailändische Küche ohne Chili nicht mehr vorstellbar. Indem scharfes Essen die Poren öffnet und das Schwitzen fördert, kühlt der Körper ab: ein idealer Effekt in tropischem Klima.

Scharfes Essen verzückt heute die Gaumen in allen Breitengraden. Der geniale Plan der Pflanzen, sich mittels Schärfe vor Feinden zu schützen, ging so gesehen voll daneben. Und dennoch hat die Geschichte ein Happy End – wenn auch anders als beabsichtigt. Ihr wohliger Schmerz sichert den scharfen Pflanzen das Weiterleben auf lange Sicht – auf Balkonen, in Gärten und in unseren Herzen.

Globale Gegenmittel
Falls eine Speise für einen Gast doch mal zu scharf ist, helfen Milch oder Joghurt. Es kommt also nicht von ungefähr, dass in Indien gerne Lassi zum Essen getrunken wird. In China wird hingegen gedämpfter Reis gegessen, um die Hitze im Mund zu mildern. Vietnamesen und Marokkaner greifen zu warmem Tee. Und die Mexikaner? Die schwören auf das Wundermittel Bier. Man müsse nur genügend davon trinken, um den Brand zu löschen.



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