Hummer à la Helvetia

Oft war früher ein Armeleuteessen, was heute als Delikatesse gilt. Edelkrebse zum Beispiel. Jeannot Müller züchtet die heimischen Flusskrebse zur Wiederansiedlung in lokalen Gewässern. Einen Teil davon verkauft er an Gastronomen und finanziert so den Artenschutz.
Text: Virginia Nolan – Fotos: Njazi Nivokazi
Veröffentlicht: 01.09.2020 | Aus: Salz & Pfeffer 5/2020
Von den gut 120 Gramm schweren Edelkrebsen ist gut die Hälfte essbar.

«Der Edelkrebs hat diesen unverkennbaren Krebsgeschmack, tritt im Gaumen aber milder auf als Hummer.» 

Einst besiedelten Flusskrebse im Alpenraum Weiher, Kanäle, Flüsse und Bäche. Wer kein Geld für Fleisch hatte, sammelte die proteinreichen Krustentiere dort gleich eimerweise. Nebst dem Edelkrebs gehören hierzulande auch der Dohlen- und der Steinkrebs zu den heimischen Flusskrebsarten. Sie alle sind vom Aussterben bedroht und haben in unseren Gewässern reproduktionsfreudigen Exoten Platz gemacht, die unter anderem durch Fischereiimporte eingeschleppt worden und Träger der Krebspest sind. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts rottete diese Pilzkrankheit etliche heimische Flusskrebspopulationen aus, später beschleunigten die Verbauung und die Verschmutzung der Gewässer deren Niedergang zusätzlich.


Im Appenzellerland kämpft einer für die Rückkehr der gefährdeten Panzerträger. Seit 2018 führt Jeannot Müller im ausserrhodischen Bühler eine Aufzuchtstation, die Edel- und Steinkrebsen zur Rückeroberung hiesiger Gefilde verhilft. «Die Gewässer sind heute meist wieder in gutem Zustand», sagt er, «doch oft verunmöglichen bauliche Hindernisse und stark geschrumpfte Restbestände eine Wiederansiedlung auf natürlichem Weg. Hier kommen wir ins Spiel.» Bei Müller verbringen Flusskrebse ihre ersten Lebensmonate in geschützter Umgebung. Die sensible Phase beginnt im Oktober, wenn die Muttertiere nach der Befruchtung ihre Eier ausstossen. Sechs Monate lang tragen sie 80 bis 100 Eier am Körper. Ende Juni schlüpfen die Jungtiere, die sich über den Sommer mehrmals häuten, um wachsen zu können. Dabei müssen sie ihren harten Panzer abstossen und sämtliche Gliedmassen unbeschädigt durch kleinste Öffnungen ziehen. «Das ist der gefährlichste Moment im Leben eines Krebses», sagt Müller. «Kommt es dann zu starken Schwankungen von Wasserwerten oder Temperatur, stirbt er.» Jungkrebse sind in der Regel sechs Monate alt, wenn Müller sie in geeigneten Gewässern aussetzt.

Artenschutz funktioniert nicht nur durch die Auf- und Nachzucht gefährdeter Tiere, sondern, so paradox es zunächst klingen mag, mitunter auch durch ihre Nutzung. «Im Fall des Edelkrebses ist das kein Widerspruch», sagt Müller, der jeweils einen kleinen Teil seiner ausgewachsenen Tiere an Gastronomen verkauft. Auch das Bundesamt für Umwelt hält in seinem «Aktionsplan Flusskrebse» fest, dass das kulinarische Potenzial des Edelkrebses dazu beitragen könne, die Verbreitung der Tiere zu fördern, wenn die Aufzucht im Rahmen einer nachhaltigen Bewirtschaftung erfolge und mit Bemühungen zur Wiederansiedlung verknüpft werde: «Dieses Vorgehen erlaubt gleichzeitig die kommerzielle Nutzung zu gastronomischen Zwecken, einen langfristigen Schutz und eine fortwährende Überwachung dieser Populationen.» Müller beispielsweise finanziert mit dem Verkauf der Edelkrebse auch seine Projekte zur Erhaltung des besonders bedrohten Steinkrebses mit, dessen Fang und Konsum hierzulande streng verboten ist. Ausgewachsene Edelkrebse für Nachzucht und Gastronomie – bis die Tiere Speisegrösse erreicht haben, dauert es mindestens vier Jahre – holt er im deutschen Memmingen, eine Autostunde von Bühler entfernt: «Dort hat ein befreundeter Fischwirt Zugang zu einem Baggersee, der ideale Bedingungen bietet: Er wird vom Grundwasser gespeist, es gibt da weder Raubfische noch Menschen.»

Vom Swimmingpool zum Ökosystem: Jeannot Müllers Flusskrebsstation.
Mindestens vier Jahre dauert es, bis ein Edelkrebs Speisegrösse erreicht.
Weibchen tragen ihre Eier sechs Monate am Körper.

«Mir gefällt die Geschichte hinter dem Produkt», sagt Silvia Manser vom Restaurant Truube im appenzellischen Gais. Die Spitzenköchin gehörte zu den ersten Abnehmern von Müllers Edelkrebsen. «Die meisten Gäste staunen, dass es in unseren Gewässern solche Tiere gibt.» Von den rund 20 Zentimeter grossen und gut 120 Gramm schweren Edelkrebsen sind Scheren und Schwanzteile essbar, so bleiben am Ende etwa 60 Gramm Fleisch vom Krustentier, das Müller zu 85 Franken pro Kilo verkauft. «Das ist wenig Ertrag für vergleichsweise viel Arbeit und Geld», räumt Manser ein, «aber es geht ja auch um ein besonderes Highlight.» Das Fleisch verwendet Manser beispielsweise für eine Ravioli-Farce oder reicht es in Kombination mit Fisch. Karkasse und Köpfe verarbeitet sie zu einer Bisque.

«Der Edelkrebs hat diesen unverkennbaren Krebsgeschmack, tritt im Gaumen aber milder auf als Hummer oder Languste», sagt Stefan Lünse, Küchenchef im Fünf-Sterne-Resort Lenkerhof. Dort haben Schweizer Edelkrebse, unter anderem jene von Müller, im Winter einen festen Platz im kulinarischen Repertoire. «Man muss solche Gerichte gut planen, damit die Warenkosten nicht durch die Decke gehen», sagt Lünse. So schickt er den Edelkrebs auch mal mit einem Kalbskopf auf den Teller. «Das sind zwei milde Geschmäcker, die sich schön ergänzen», sagt Lünse, «einmal exquisit, einmal bodenständig, in beiden Fällen erstklassig.»

Hauptberuflich ist Flusskrebszüchter Müller Berufsschullehrer. Aushilfsjobs in der Gastronomie und der Austausch mit der Branche hatten ihn vor Jahren auf die Idee mit den Speisekrebsen gebracht: «Ich dachte, das könnte eine Marktlücke sein.» Für seine Aufzuchtstation hat der Tüftler einen ausgedienten Swimmingpool zum Krebsbecken umfunktioniert. Darin ist ein intaktes Ökosystem gediehen, das auch von Libellen und anderen Insekten, von Bachflohkrebsen und vielfältigen Wasserpflanzen besiedelt wird. «Hier finden die Krebse alles, was sie brauchen», sagt Müller, «ohne dass ich sie füttern muss. Das war mein Ziel: einen Lebensraum zu schaffen, der sich selbst erhält.»

Artenschutz durch Nutzung
In der Flusskrebsstation im appenzellischen Bühler laufen unterschiedliche Aktivitäten zur Rettung heimischer Edel- und Steinkrebse zusammen. In der Aufzuchtstation zieht Jeannot Müller in naturnaher Umgebung Jungkrebse auf, die er später in geeigneten Gewässern aussetzt. Nebst Schulungen, Führungen durch die Station und weiterer Öffentlichkeitsarbeit finanziert auch der Vertrieb von Speisekrebsen Müllers Einsatz für den Artenschutz: In den Herbst- und den Wintermonaten verkauft er jeweils einen Teil seiner Edelkrebse an Gastronomen.
flusskrebs-station.ch

Ostschweizer Original
Das Appenzellerland gehörte einst zu den wichtigsten Habitaten des Steinkrebses. Die scheuen, nachtaktiven Krustentiere leben unter Wurzeln und Steinen in Bächen. Sie brauchen sauerstoffreiches Wasser, reagieren empfindlich auf Gewässerverschmutzungen und sind die am stärksten gefährdete heimische Flusskrebsart. Ihr Fang und Konsum ist streng verboten. In Kooperation mit den lokalen Fischereiverwaltungen koordiniert Jeannot Müller in seiner Flusskrebsstation die Auf- und Nachzucht von Steinkrebsen. Langfristig will man einen Elterntierstamm von rund 60 Exemplaren erhalten, deren Nachwuchs neue Populationen in freier Wildbahn begründen soll. Gemeinsam mit dem Ökobüro Ecqua sucht Müller auch diesen Herbst Freiwillige, die mithelfen, noch unbekannte Steinkrebsvorkommen sowie geeignete Gewässer zur Wiederansiedlung der Tiere ausfindig zu machen.



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