Auch die Fabrik, die ein gutes Jahr nach dem Brand wiedereröffnet, sieht fast genauso aus, wie die alte: Die Wände stehen auf den Grundmauern, die neuen Maschinen haben lediglich ein jüngeres Baujahr. Eine davon zieht gerade meterlange Baumwolldochte, aufgespannt wie Gitarrensaiten, durch ein Wachsbad. In den Paraffinduft mischt sich hin und wieder eine Bienenwachsnote. An den Brand erinnert in der hell ausgeleuchteten Fabrikhalle, in der sich Wachsplatten, Rohlinge und Kerzen bis unter die Decke stapeln, nichts mehr. Lediglich die Fassade erstrahlt heute in hellem Blau statt in angegrautem Braun.
Die minimalen Änderungen kommen nicht von ungefähr: Trends spielen in der Kerzenwelt eine eher kleine Rolle. Wichtiger ist, dass die Füsse der Spitzkerzen den richtigen Durchmesser für die Leuchter der Restaurants haben oder dass die Floristen aus 60 verschiedenen Farben wählen können. Selbst einfache Baumkerzen werden hier von Hand eingefärbt: Eine der Mitarbeiterinnen hält ein Bündel davon in der linken Hand und tunkt mit der rechten eine nach der anderen in den mit petrolgrünem Wachs gefüllten Schmelztopf. Danach gehts ins kalte Wasserbad, in das die Kerzen kurz eintauchen, um gleich darauf wieder aufzusteigen.
Die Lienerts sind froh, dass ihnen die meisten Kunden, zu denen neben Kirchen und Klöstern vor allem Gastronomen, Hoteliers und Floristen zählen, nach dem Brand treu bleiben. Vor allem am Anfang müssen sie viel improvisieren, der Weg zurück ist kein einfacher:«Auf so etwas kann man sich nicht vorbereiten», sagt Otmar Lienert, der den Betrieb seit 1995 in vierter Generation führt: «Manche Mitbewerber erzählten schon herum, dass wir dichtmachen.»
Also verlieren sie keine Zeit: Am Tag nach dem Brand trägt das Team den ersten Schutt raus, die Lienerts informieren die Kunden über das Weitermachen und finden in den Räumen des Autohauses Füchslin eine neue Bleibe. Fürs Erste müssen sie sich auf manuelle Aufgaben wie das Giessen, Tunken und Verzieren beschränken. Die dafür notwendigen Rohlinge beziehen sie von befreundeten Unternehmen. Statt Mitarbeiter zu entlassen, wie es ihnen die Versicherung rät, stellen sie zusätzliche Leute ein. Heute zählt der Betrieb 30 Mitarbeiter – mehr als vor dem Brand.