Die Bühne fürs Essen

Weiss, rund und aus Porzellan: Anders kam ein Teller der gehobenen Gastronomie nicht in die Tüte. Das war früher. Heute spielen Köche nebst Farben vor allem mit Formen. Das sei ihnen auch ans Herz gelegt.
Text: Virginia Nolan – Fotos: Archiv Salz & Pfeffer
Veröffentlicht: 18.06.2019 | Aus: Salz & Pfeffer 4/2019

«Runde Teller scheinen süsse Geschmäcker zu verstärken 

Fixe Vorstellungen davon, was einer guten Küche würdig sei, prägten die Gastronomie jahrzehntelang. Mittlerweile ist vieles im Aufbruch, Individualismus angesagt. Immer mehr Köche kochen, worauf sie Lust haben, statt sich an Pflichtvertretern der Haute Cuisine abzuarbeiten. Auch der Gast von heute, so wissen Marktforscher, tickt anders: Für ihn bemisst sich Exklusivität weniger am Preis, sondern am Erlebniswert. Der perfekte Gaumenschmaus setzt also keine polierten Serviettenringe voraus, aber das gewisse Etwas. Entsprechend braucht ein unverkennbares Profil, wer als Gastgeber erfolgreich sein will. Das Bemühen darum beginnt im Detail – zum Beispiel mit der Wahl des richtigen Tellers.

Ecken und Kanten soll er haben, wenn es nach Hansjörg Ladurner geht. Der Küchenchef im Scalottas Terroir auf der Lenzerheide arbeitet ausschliesslich mit quadratischen Tellern. Seine Gäste wählen die Anzahl Gänge und deren Reihenfolge frei, «dabei sollen alle Gänge etwa gleich gross sein», sagt Ladurner. Der quadratische Teller – an jeder Seite gleich lang – reflektiere diesen Anspruch, helfe aber auch den Sinnen nach. «Ich will jede Einzelkomponente zur Geltung bringen. Nicht erst im Gaumen, sondern bereits für das Auge. Ordnung auf dem Teller ist mir daher wichtig», sagt Ladurner. «Einen eckigen Teller kann ich vor dem inneren Auge in verschiedene Bereiche aufteilen und ein Gericht entsprechend arrangieren.» Farblich mag es der Küchenchef klassisch: «Der Teller muss weiss sein. Alles andere lenkt vom Produkt ab, das er in den Mittelpunkt stellen soll.»

Gleicher Meinung ist Cornelius Speinle. Der Schaffhauser schwingt seit 2018 im Hamburger Luxushotel The Fontenay die Kelle und hat ein Faible für Löffel. «Wir Europäer mögen den Löffel», weiss er. «Er ermöglicht eine ursprüngliche Form der Nahrungsaufnahme und weckt Erinnerungen an frühkindliche Geschmackserlebnisse.» Entsprechend reicht Speinle zu vielen Gerichte das einfachste aller Bestecke und mag aus diesem Grund tiefe Teller, in denen sich Saucen gebührend auslöffeln lassen. Bietet sich dieses Vergnügen nicht an, setzt er auf flache Teller. Rund müssen sie in jedem Fall sein. «Wir achten darauf, die Geschmackssinne möglichst vielfältig zu bespielen, damit im Gaumen ein sprichwörtlich rundes Bild entsteht», sagt Speinle. «Das soll sich auch in der Optik widerspiegeln. Eckige Teller empfände ich in dieser Hinsicht als Bruch.»

«Der altbewährte bleibt der beliebteste», sagt Sabrina Berardelli, Beraterin beim Gastronomiefachhandel B & n, über den runden, weissen Teller aus Porzellan. Das eckige Pendant hingegen sei weniger gefragt. Wenn, dann für Gerichte, die nach einer Struktur oder klaren Aufteilung verlangten: «Ich denke da an Sushi oder einen Burger, der mit Beilagen serviert wird.» In diesem Fall böte der Teller dem Essen eine Bühne, manchmal gehe es aber auch darum, der Speise einen Rahmen zu geben. «Risotto oder Pasta zum Beispiel», sagt Berardelli, «wirken auf flachen Tellern verloren. Dagegen verleihen runde, leicht vertiefte Teller solchen Gerichten eine Form.»

Hansjörg Ladurner, Küchenchef des Restaurants Scalottas Terroir, braucht Ecken und Kanten für seine Gerichte.
Er bevorzugt runde Teller für ein insgesamt rundes Ergebnis: Sterne-Koch Cornelius Speinle.
Silvio Germann, Küchenchef im Igniv by Andreas Caminada in Bad Ragaz, richtet bevorzugt in Schüsseln an.

Dass der runde Porzellanteller – mit oder ohne Fahne, wie der Rand genannt wird – der Kassenschlager bleibt, habe vor allem praktische Gründe, sagt Markus Hans, Geschäftsleiter des Gastronomiefachhändlers Berndorf: «Porzellan ist die erste Wahl, weil es Wärme speichert wie kein anderes Material, rund die beliebteste Form, weil Kanten Bruchgefahr begünstigen.» Auch Kratzer machten sich beim Klassiker weniger schnell bemerkbar. «Runde Teller sind drehbar, beim Stapeln liegen sie daher nie an der exakt gleichen Stelle aufeinander», sagt Hans. «Bei eckigen Formen sind die Berührungspunkte immer dieselben, was den Verschleiss beschleunigt.» Das bestätigt Manuela Stockmeyer vom Gemeinschaftsverpfleger SV Group: «Eckige Teller gehen häufiger zu Bruch und sind weniger praktisch, speziell für Restaurants mit hoher Gästefrequenz», sagt sie. «Nichtsdestotrotz bringen sie optische Abwechslung. Wir nutzen sie gerne als Hingucker für spezielle Anlässe.»

Wenn es indes nach Food-Bloggern oder Trendsettern wie der englischen Starköchin Nigella Lawson geht, waren Teller ohnehin gestern: Jetzt kommt die Schüssel. Unter dem Hashtag #bowl verzeichnet Instagram fast drei Millionen Einträge. Schüsselgerichte aus Asien haben die westliche Küche inspiriert, und Food-Sharing-Konzepte, zum Teilen in Schalen ausgelegt, tun ihr Übriges. Im Netz präsentieren hippe Restaurants von Singapur bis New York ihr Essen in der Bowl. Werden sie dem Teller den Rang ablaufen? «Mitnichten», sagt Berardelli. «Die Nachfrage nach Schüsseln klingt bereits wieder ab. Man hat eingesehen, dass sie für Suppen und Salate funktionieren, sich aber sonst nicht unbedingt aufdrängen.» Sharing-Konzepte hingegen blieben ein Thema und entsprechend auch die dafür verwendeten Schälchen aus Glas oder Porzellan. Einer, der dafür viel übrig hat, ist Silvio Germann, Küchenchef im Igniv by Andreas Caminada in Bad Ragaz. Germann zelebriert Food-Sharing auf Fine-Dining-Level. «Ich mag Schalen aber auch deshalb, weil ich Löffelgerichte liebe: Speisen mit Sud oder Sauce, für die man weder Messer noch Gabel braucht», sagt er.

Ob sich Sharing-Konzepte etablieren werden, fragt sich indes Geschirrfachhändler Hans: «In der Schweiz ist die Sache noch nicht richtig angekommen», sagt er. Und auch Mario Hunkeler vom Konkurrenzanbieter Gastroimpuls verortet den Trend erst am fernen Horizont: «Ich bin mir aber sicher, dass er Potenzial hat.» In einem Punkt sind sich die befragten Profis vom Gastronomiebedarf einig: Auffallend gemustertes oder mit Blümchen verziertes Geschirr ist derzeit nicht gefragt. Demgegenüber seien Farben in Natur-und Erdtönen ein Thema: mintgrün, blau oder beige, zum Beispiel.

Nicht nur die Ingredienzen, auch das Geschirr beeinflusst unsere Wahrnehmung beim Essen. Keiner weiss das besser als Charles Spence von der Universität Oxford. Er ist Professor für Experimentalpsychologie und ergründet mithilfe der Neurowissenschaften, wie Farben, Formen, Texturen oder Klänge die Nahrungsaufnahme beeinflussen. Gastrophysik nennt er seine Disziplin. Über den Teller, das grösste unserer Speisewerkzeuge, weiss er einiges zu berichten. So servierte Spence zig Probanden identische Gerichte auf verschiedenen Tellern – mit unterschiedlichem Ausgang, was das Geschmackserlebnis der Testesser betrifft. Seine Forschung legt nahe, dass Gastronomen sich über Geschirr Gedanken machen sollten.

«Unsere Experimente zeigen unter anderem, dass wir saure und bittere Noten besser herausschmecken, wenn ein Gericht auf eckigen statt runden Tellern gereicht wird», sagt Spence. «Runde Teller hingegen scheinen süsse Geschmäcker zu verstärken.» Auf die Frage, warum das so ist, hat Spence unterschiedliche Erklärungsansätze. So wissen wir etwa, dass die menschliche Vorliebe für Süsses unseren Vorfahren geschuldet ist, die ihren Geschmackssinn als Gefahrendetektor nutzten: Giftige Pflanzen schmecken meist bitter und Saures ist oft unreif, während die Natur in aller Regel nichts hervorbringt, das süss schmeckt und giftig ist. «Vielleicht lässt sich diese Süss-Assoziation auf Formen übertragen», vermutet Spence, «an Ecken und Kanten kann man sich stossen, sie sind spitzig, während von runden Formen keine Gefahr ausgeht.» Wahrscheinlich sei ebenso, dass die Assoziation von Geschmäckern mit Formen erinnerungsbedingt sei: Desserts essen wir seit Kindertagen meist aus Bechern oder von ebenfalls runden Tellern, während etwa Käse meist auf einer rechteckigen Platte daherkommt. «Das haben wir im Gehirn abgespeichert», so Spence, «und entsprechend im Hinterkopf.»

Der Professor macht keinen Hehl daraus, dass er auf viele Fragen keine abschliessende Antwort hat. Die unterschiedlichen Eindrücke seiner Probanden sprechen für sich, und so auch die steigende Zahl junger Köche, die sich die Arbeit des Professors zunutze machen. Zu ihnen gehören Schüler von Heston Blumenthal, Ferran Adrià oder der Berufsnachwuchs am Institut Paul Bocuse in Lyon. «Ich arbeite viel mit Spitzenköchen», sagt Spence, «aber man muss keiner sein, um unsere Forschungsergebnisse umzusetzen. Das klappt auch in der Kantine.»

 



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