Es gibt kein Zurück

Nach dem sechsten Zwei-Sterne-Restaurant wusste Tobias Zihlmann nicht mehr, wohin mit sich. Heute arbeitet er daran, dass Gastronomen und Produzenten morgen wieder miteinander reden.
Text: Delia Bachmann – Fotos: Jürg Waldmeier
Veröffentlicht: 12.06.2018 | Aus: Salz & Pfeffer 4/2018

«Ich habe diese Plattform fast zu Tode gedacht und weiss, wie das Ding in vier Jahren aussieht.»

Letzten Oktober zogen die Mitglieder des Coworking-Projekts Das Provisorium in den zweiten Stock der Bäckerei Buchmann in Zürich Binz und machten aus der einstigen Backstube ein Büro, das jederzeit wieder zur Backstube werden könnte: Die Rührbesen stehen still, die Öfen sind kalt, aus der Maschine, die Mandeln und Zucker in Marzipan verwandeln kann, wächst eine Zimmerpflanze. Die alten Geräte stehen wie Findlinge zwischen den Schreibtischen, unverrückbar und unkaputtbar, bereit, bei Bedarf ihren Dienst wiederaufzunehmen.

So ähnlich ist das bei Tobias Zihlmann, der an einem der Tische vor aufgeklapptem Laptop sitzt. Seit zwei Jahren ist der gelernte Koch als Alleinunternehmer unterwegs. Auch er hat sein Handwerk nicht verlernt, könnte jederzeit zurück an den Herd, wenn er denn wollte. Tut er aber nicht. Der 28-Jährige vermittelt in diversen Projekten zwischen Gastronomen und Produzenten und setzt sich für die «Rekultivierung des guten Geschmacks» ein. Ins Provisorium, das er einst mitbegründete, kommt er noch zwei bis drei Mal pro Woche: «Hier bin ich nahe bei Menschen, die sich selbst nicht so ernst nehmen. Was nicht heisst, dass sie das, was sie tun, nicht ernst nehmen.»

Laura Schälchli ist so ein Mensch. Die Slow-Food-Gastronomin betreibt im Nebenraum eine kleine Schokoladenmanufaktur, im Provisorium sind die beiden Freunde geworden: «Ich kenne wenige, die jeden Schritt so sauber durchdenken, wie Tobias das macht. Er lässt sich Zeit und bezieht alle Parteien mit ein.» Bestes Beispiel dafür ist das Projekt Diversitas-Forum (siehe Box): Mit der Plattform will er Gastronomen und Produzenten, die heute an entgegengesetzten Enden der Lieferkette stehen, im digitalen Raum zusammenbringen, in dem sie wieder miteinander reden und handeln können.

Vor zwei Jahren war Zihlmann das letzte Mal in den Ferien, unter seinen hellen Augen liegen Schatten, neue Aufträge nimmt er keine mehr an. Nun steht das Projekt, das immer mehr von seiner Energie und Aufmerksamkeit beanspruchte, an der Schwelle zur Realisierung. Die ganzen Dokumente und Visualisierungen liegen auf der Festplatte, der Rest ist im Kopf: «Ich habe diese Plattform fast zu Tode gedacht und weiss, wie das Ding in vier Jahren aussieht.» Sitzen die Investoren und Partner erst einmal im Boot, gibt es kein Zurück mehr.

Das ist Tobias Zihlmann auch ganz recht so. Er gehört zu jenen, die eine Türe schliessen müssen, um den Kopf frei zu kriegen für das, was hinter der nächsten liegt. Von den vielen Türen, durch die er in seiner jungen Karriere ging, führten die meisten in eine Sterne-Küche: «Ich wollte nicht fünf Jahre lang an einem Ort sein, sondern rein, Neues lernen und weiter.» Obwohl Zihlmann nicht gerade erpicht ist auf diese Erinnerungsreise zurück zu den Anfängen, beginnt er zu erzählen. Mit leiser Stimme, um die anderen nicht zu stören.

Vom Birnenspalier, den Quittenbäumen und Gemüsebeeten im Elternhaus im aargauischen Boniswil. Vom Wachstumsschub, der seinem Rücken nicht gutgetan hat und der durch die niedrigen Arbeitsflächen in der Küche nicht besser wurde. Von der Verbissenheit, die ihm im ersten Lehrjahr im Lenkerhof eingeimpft worden sei. Von der Zeit als Stagiaire in Stockholm und Oslo, wo jeder Handgriff durchgetaktet war. Und auch von seiner damaligen Einstellung, die er heute als «es bitzli biireweich» und ungesund bezeichnet: «Ich habe mir gesagt, jeder Betrieb, in dem ich arbeite, muss besser sein als der davor. Gemessen an Punkten und Sternen.» So ging das neun Jahre lang, bis es vor zwei Jahren zum grossen Bruch kam.

Dabei hatte er im Park Hotel Vitznau, in dem er im Restaurant Focus als Chef Entremetier am Herd stand, alles, was sich ein Koch wünschen kann. Eine riesige Küche, ausgestattet mit allen Schikanen, eine grosse Brigade, dazu ein Sponsor im Rücken: «Man sagte uns, dass alle Türen offenstehen.» Hier wollte er einbringen, was er in Stockholm gesehen hatte: Bauern, die den Rosenkohl am Strunk und Spezialitäten wie Vogelmiere direkt ins Restaurant liefern. In der Realität habe das auf Punkte und Sterne ausgerichtete Konzept der Freiheit zum Experimentieren enge Grenzen gesetzt.

Grenzen, die Zihlmann je länger, je weniger akzeptieren wollte. Hinzu kam, dass er in Vitznau zusehends in die Rolle desjenigen schlüpfte, der auf Produktesuche geht, wilde Kräuter sammelt und ein Spezialwissen über Gemüse hat: «Ich vertrat immer die Meinung, das Restaurant könne sich profilieren, indem es mit Zutaten aus der unmittelbaren Region arbeitet. Doch ich merkte, dass das Hotel mit seinem Konzept stellvertretend für die Art von Gastronomie stand, die für mich keinen Sinn mehr ergibt.»

Also kündigte er und zog einen Schlussstrich unter seine Kochkarriere. Ohne Plan, was danach kommt: «Wenn ich angefangen hätte herumzustudieren, hätte ich den Schritt nie gemacht.» Dass das Hotel wenig später ein strikt regionales Küchenkonzept umsetzte und Nenad Mlinarevic auch deshalb zum Koch des Jahres 2016 gekürt wurde, ist eine Ironie des Schicksals, die Zihlmann nicht entgangen ist: «Im ersten Moment war das schon frustrierend, weil das wären meine Bedingungen gewesen. Trotzdem ist es cool, dass er es gemacht hat.»

Man sei damals vom Kopf her noch nicht so weit gewesen, sagt Nenad Mlinarevic, der seit kurzem in der Stadtzürcher Bauernschänke wirkt. Seinen einstigen Weggefährten hat er in guter Erinnerung: «Tobias ist ein Topkoch, passioniert und detailverliebt. Ein Tüftler und Denker, der Dinge hinterfragt und nicht nur ausführt. Ich finde es schade, dass er nicht mehr am Herd steht.»

Nach seinem Ausstieg aus der Spitzengastronomie klingelte bei Tobias Zihlmann immer häufiger das Telefon. Am anderen Ende fragten Köche wie Rolf Fliegauf, Sven Wassmer oder Fabian Fuchs nach Adressen von Produzenten. Darauf gründete Zihlmann, der sich in der Rolle des filternden Zwischenhändlers nicht gefiel, eine geschlossene Facebook-Gruppe mit aktuell über 430 Mitgliedern als Pilotprojekt, aus dem nun das Diversitas-Forum entstehen soll: «Ich musste mich als aktiver Vermittler zurückziehen, denn irgendwo spielen immer Emotionen mit. Wenn zwei Produzenten das gleiche Sortiment haben, ist klar, an wen du den Kontakt weitergibst. Und das ist nicht Sinn der Sache.» Also nahm er sich aus dem Spiel.

Ein Post vom 11. März dieses Jahres zeigt, wie gross der Redebedarf ist: Hier sucht ein Koch aus dem Seeland nach unreifen Erdbeeren, dort kommentiert eine Produzentin aus dem Baselland irritiert: «Hö! Wieso das denn? Was hast du damit vor?» Von diesem unmittelbaren Austausch profitieren beide Seiten. Die Produzenten, weil sie endlich wissen, was Köche wollen. Die Köche, weil sie den langwierigen Aufbau eines eigenen Netzwerks abkürzen können. Tobias Zihlmann lächelt, die Selbstständigkeit hat ihm gutgetan. Auch körperlich, obschon man ihm die zehn Kilo mehr nicht ansieht. In die Zukunft blickt er zuversichtlich: «Die Plattform funktioniert. Es ist alles durchgerechnet und kann sich tragen.»

Das Diversitas-Forum
Äpfel, Bergkartoffeln, Farnspitzen, unreife Erdbeeren, Wildkräuter, Naturweine, Tannenschösslinge, Fleisch vom Zebu-Rind. All das und noch viel mehr wird heute schon über den Diversitas-Marktplatz gehandelt. Dabei gibt die geschlossene Facebook-Gruppe, die Tobias Zihlmann im Juni 2016 gründete und die aktuell über 430 Mitglieder zählt, nur einen kleinen Vorgeschmack auf die Plattform, auf der sich Gastronomen und Produzenten künftig vernetzen und handeln sollen. Mit der Unterstützung des Bundesamts für Landwirtschaft konnte sie weiterentwickelt werden und geht nun in die Umsetzungsphase. Verschiedene Organisationen, darunter Bio Suisse, Kagfreiland, Pro Specia Rara und der Schweizerische Demeter Verband, haben bereits signalisiert, als Partner bei der Entwicklung der Plattform mitzuwirken. Das Ziel – eine echte, dem Hof- und Küchenalltag angepasste Alternative zum konventionellen Handel zu bieten – rückt immer näher: Der Marktplatz wächst, die Finanzierung ist angelaufen.
www.diversitas.ch

Wo sich Bauern und Köche finden
Neben Tobias Zihlmann engagieren sich auch andere Branchenplayer für die bessere Vernetzung von Gastronomie und Landwirtschaft. Seit Herbst 2016 organisiert Foodscout Dominik Flammer unter dem Titel Koch sucht Bauer – Bauer sucht Koch Produzentenarenen: Dabei sprechen Bauern und Köche über neue Formen der Zusammenarbeit und zeigen, wie diese aussehen kann. Ende April ist mit Lokalmarkt eine Vermittlungsplattform für regionale Produkte im Grossraum St. Gallen gestartet – entstanden aus dem Gemüselieferdienst Emma & Söhne. Ebenfalls Ende April kündigte Gastrosuisse an ihrer Jahresmedienkonferenz eine Vermittlungsplattform an, die sie zusammen mit dem Bauernverband entwickeln will.
www.publichistory.ch
www.lokalmarkt.ch
www.gastrosuisse.ch



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