Was der Boden hergibt
Am diesjährigen Symposium besinnt sich Soil to Soul auf seine Wurzeln – und holt einen Star der portugiesischen Küche nach Zürich, dessen Konzept perfekt zur Veranstaltung passt.
«Die Kleinen sind immer die Schnellsten»
Die Fahrt ins schaffhausische Grenzgebiet führt grösstenteils über Landstrassen. Riegelhäuser und Kuhweiden wechseln sich ab, bis irgendwann das Ortsschild Ramsen ins Blickfeld rückt. Hier verbringen die 29 Bewohner des Alters- und Pflegeheims Bachwiesen ihren Lebensabend, nicht wenige stammen aus dem Dorf oder einem der umliegenden Weiler. Vor dem Eingang stehen Holzhasen, Osterglocken und blühende Apfelzweige, der Besucher sieht sofort: Dieses Heim ist seinen Bewohnern ein zweites Zuhause.
Weniger offensichtlich ist, dass das Bachwiesen auch ein Pilotbetrieb für die Umsetzung der «Schweizer Qualitätsstandards einer gesundheitsfördernden Gemeinschaftsgastronomie» ist. Aufmerksame Beobachter bemerken zwar die kleine Fee in Latzhosen, die ihnen von einem Aufkleber an der Türe zuwinkt. Um aber zu verstehen, was die bäuerliche Tinkerbell mit den Standards zu tun hat, muss man weiter zurückspulen.
Und zwar bis zur Igeho, die letzten November in Basel über die Bühne ging. Hier hat das Kleine Gewissen (siehe Box) – in Gestalt der besagten Fee – das Licht der Welt erblickt. Die Marke ist das Wunschkind des Schweizer Verbands für Spital-, Heim- und Gemeinschaftsgastronomie (SVG), der vom Bund damit beauftragt wurde, die Standards bekannter zu machen.
Das Kleine Gewissen soll Gastronomen dabei helfen, gesundheitsfördernde Massnahmen im betrieblichen Alltag umzusetzen – und zwar mit Augenmass und ohne Zwang. Ausgerechnet im Bachwiesen, einem von insgesamt zwölf Pilotbetrieben, ist ihm das zuerst gelungen: «Die Kleinen sind immer die Schnellsten», erklärt Patrick Reiter, Heimleiter und SVG-Vizepräsident: «Die Entscheidungswege sind kurz, wir konnten rasch loslegen.»
Wir, das sind Patrick Reiter und Heimküchenchefin Rosmarie Oechslin. Beide machten auf der Website des Kleinen Gewissens den Einstufungstest und lagen mit 105 (Oechslin) und 108 (Reiter) von 150 Punkten nahe beieinander. Der Test zeigte, dass das Heim bereits vieles richtig macht. So ist die Küche salzarm und kräuterreich, der Mittwoch vegetarisch, die Milch von der Bäuerin nebenan, der Convenience-Anteil klein, und auch Food Waste gibt es kaum: «Ich koche nicht gerne für die Biogasanlage», stellt Rosmarie Oechslin klar.
Nun gilt es, etwas Gutes noch besser zu machen. Dabei ist man sich im Bachwiesen einig, dass ein breites Teeangebot oder ein immer verfügbarer Früchtekorb insgesamt mehr bewirken als ein grosser Wurf, der dann ein Entwurf bleibt. Kurz: Man weiss, dass Perfektion nur auf dem Papier gelingt. «Wir sind noch sensibilisierter, achten noch mehr darauf, möglichst viel zu verwerten», erzählt Oechslin, während sie zuerst das Peterlikraut, dann die Stiele für den Gemüsefond zerkleinert.
Das Verwerten von Bananen- oder «Melonenschalen, wie sie es in einer Kochsendung gesehen hat, will sie den Bewohnern aber nicht zumuten: «Ich koche gutbürgerlich, wie ich es vor 40 Jahren gelernt habe, probiere aber immer wieder Neues aus», sagt sie und zieht Pastinakenstampf unter den Kartoffelstock. Während Oechslin das Mittagessen für die 29 Bewohner und durchschnittlich zwölf Mitarbeitenden zubereitet, formt Diätköchin Claudia Hug die Köttbullar fürs Osterfest, in fünf davon versteckt sie ein Wachtelei.
Im Bachwiesen wird viel gefeiert, nicht selten ist das halbe Dorf mit von der Partie: Vom grossen Sommerfest bis zu den Lehrabschlussessen mit Paella gibts immer etwas zu feiern. Die Geselligkeit wird hochgehalten und tut den Leuten gut: Schliesslich hat nicht nur das Essen, sondern auch das Drumherum – Licht, Geräusche, Platz, Tischnachbarn – einen Einfluss auf das Wohlergehen.
Aber zurück zum mittlerweile fertigen Mittagessen. Punkt 11.30 Uhr fährt Rosmarie Oechslin mit ihrem Buffetwagen los: «Man geht von Tisch zu Tisch und kann auf den einzelnen Bewohner eingehen. Mit der Zeit weiss man, wer was mag.» Heute hat sie Schweizer Pouletragout mit Nüdeli und asiatischem Gemüse sowie die Reste des Schweinebratens vom Vortag mit Kartoffeln-Pastinaken-Stock und Pfälzerrüebli dabei. Abgesehen von Klassikern wie Kartoffelstock sei es nicht leicht, jeden Geschmack zu treffen. Hinzu kommt, dass die Medikamente den Geschmackssinn beeinflussen können: Was der eine als fad empfindet, ist dem anderen zu salzig.
Zu Rosmarie Oechslins Leidwesen stehen die Menagen und insbesondere die Maggiflaschen noch immer auf einzelnen Tischen. Mittlerweile hat sie sich damit aber arrangiert: «Wenn einige das unbedingt wollen, dann will ich sie nicht bevormunden.» Insgesamt seien die Bewohner aber nicht heikel: «Wir haben auch keinen einzigen Allergiker, höchstens mal ein Kuttelvegetarier», sagt Heimleiter Reiter.
Gut hat es im Buffetwagen von Rosmarie Oechslin immer eine Alternative. Für sie besteht die grösste Herausforderung denn auch darin, dass die Bewohner – wo nötig – auf ihre Kalorien kommen: «Im Alter kann der Appetit abnehmen, deshalb arbeite ich mit versteckten Kalorien, etwa mit Rahm.»
Das Kleine Gewissen hat nichts dagegen: Es ist eine gute Fee, die den Gastronomen nicht plagt, sondern hie und da einen kleinen Schubs in die richtige Richtung gibt. Und welche das ist, steht nicht in den Standards allein, sondern ist abhängig von den Menschen vor Ort.