Über Sinn

Cornelius Speinle hat das Talent, den Ehrgeiz, aber auch die Bescheidenheit, um es weit zu bringen. Gelernt hat der Schaffhauser sein Handwerk in den besten Küchen von Deutschland, Asien und England. Seit zwei Jahren kocht er im helvetischen Niemandsland.
Interview: Tobias Hüberli – Fotos: Jürg Waldmeier
Veröffentlicht: 20.11.2016 | Aus: Ausgabe 7/2016

«Viereckiges Porzellan kann Gäste nervös machen.»

Sie sagen, das Restaurant The Fat Duck von Heston Blumenthal sei das Beste, was Sie je gesehen haben. Warum? 
Cornelius Speinle: Ich denke einfach, dass es wenige Restaurants auf dieser Welt gibt, die etwas Ähnliches überhaupt hinkriegen, die auch nur annähernd an dieses Level und dieses Wissen herankommen.

Was sind die Gründe dafür?
Heston Blumenthal ist kein gelernter Koch, das spürt man einfach. Ganz egal, wie viel Wissen man als Koch mitbringt, bei ihm fängt man wieder bei null an. Weil Blumenthal nicht mit einer Kochlehre vorbelastet ist, erarbeitet er sich andere Wege. In der Lehre zeigen sie einem zum Beispiel, wie man etwas schmort, und so machen es dann alle. Im The Fat Duck hingegen gibt es zwei Labore, in denen an neuen Gerichten und Techniken geforscht wird. Statt klassisch zu schmoren, legt man die Dinge auch mal in eine Salzlake. Es wird zweimal pro Tag Glace produziert, damit keine Eiskristalle entstehen können. Die Entwicklung von Blumenthals Interpretation einer Schwarzwälder Kirschtorte dauerte zwei Jahre. Die Rezepturen sind so ausgearbeitet, dass sie makellos sind. Es ist einfach eine andere Welt.

Welche Erkenntnisse haben Sie in dieser Zeit gewonnen?
Wir führten zum Beispiel eine Studie mit 5000 Menschen durch. Dabei kam heraus, dass die Teilnehmer für Gerichte, die in einem 45-Grad-Winkel angerichtet sind, am meisten zu zahlen bereit waren. Auf schwarzen Tellern muss man 15 Prozent mehr zuckern und salzen, weil Schwarz den Geschmackssinn hemmt, viereckiges Porzellan hingegen kann Gäste nervös machen. Wenn man solche Dinge weiss, kann man damit spielen.

Wie kriegt man im The Fat Duck eigentlich eine bezahlte Stelle?
Ich musste Probearbeiten und Referenzen einreichen. Zudem haben sich einige meiner ehemaligen Chefs für mich eingesetzt. Zuerst war ich Chef de Partie, später dann Saucier, auch im Labor durfte ich eine Zeit lang arbeiten.

2013 kehrten Sie aus London zurück und eröffneten in Schlattingen ein Gourmetrestaurant mit gerade mal 16 Plätzen. Sie spinnen schon ein bisschen.
Als 27-Jähriger ohne Mittel und Namen war es mir schlicht nicht möglich, zum Beispiel in Zürich etwas aufzumachen. Pacht und Löhne sind in der Stadt einiges höher als hier und wir haben keinen Sponsor im Rücken. Der Anfang war wirklich schwierig. Mit den Auszeichnungen von Gault & Millau und Michelin wurden die Gäste dann aufmerksam auf uns.

Hand aufs Herz: Rentiert der Laden?
Wir sind auf einem guten Weg. Klar, es dürften immer ein paar Gäste mehr sein. Zu Beginn war ich mit einem Koch in der Küche und meine Frau im Service. Dass wir jetzt zu dritt in der Küche wirken können, ist ein gutes Zeichen. Wir arbeiten mit nur einem Menü. Das hilft bei der Kalkulation, wir backen zum Beispiel jeden Tag genauso viele Brötchen, wie wir brauchen. Überschuss gibt es bei uns nicht. Deshalb können wir aber auch keine Laufkundschaft empfangen.

Hatten Sie jemals Zweifel?
Eigentlich nicht. Wenn jemand sportlich ist, sich zum Ziel setzt, die 100 Meter unter zehn Sekunden zu rennen, und seinen gesamten Ehrgeiz reinlegt, dann wird er es irgendwann schaffen. Wenn er einfach nur an den Start geht und mal schaut, was er erreichen kann, wird er hingegen scheitern. In diesem Restaurant steckt sehr viel Passion und sehr viel Arbeit. Ich gebe mein gesamtes Herzblut hier rein. So ist es machbar.

Woher kommt dieser Ehrgeiz?
Ich habe gesehen, was in England möglich ist. Blumenthals Küche ist nicht viel grösser als diese hier. Und ich schaue das Glas als halbvoll an, das ist das Allerwichtigste.

Mariniertes Sommergemüse
Ferrero mit Kaffee, Banane, Whisky und Tabak
Lamm hoch 4
Tobias Vetsch und Eva Brandl
Niklas Grom
Restaurant Dreizehn Sinne, Schlattingen

Sie lernten in Drei-Sterne-Küchen in Deutschland, Asien und England. Wie sind diese Einflüsse in Ihrer Küche erkennbar?
Wir kopieren niemanden, das ist mir wichtig. Die meist auf sehr wenige Komponenten reduzierte Neue Nordische Küche ist zum Beispiel nichts für mich. Ich koche überregional, ich will möglichst viel zeigen. Und in meinen Gerichten steckt sehr viel Technik. Das habe ich sicher aus dem The Fat Duck mitgenommen. Mich fasziniert einerseits das Technische, dieses tiefe Eintauchen in ein Thema, andererseits das puristische Resultat auf dem Teller.

Das sieht man auch am Lamm, das wir für die Rubrik Zerlegt fotografiert haben.
Das Gericht heisst «Lamm hoch 4». Dafür trennen wir das Nierstück vom Sattel, dann trennen wir das Fett vom Nierstück und entfernen die Silberhäute. Das Fett bearbeiten wir mit einem Wallholz, konkret zerschlagen wir die Fasern des Fetts, danach kleben wir die Fettschicht wieder ans Nierstück, garen es sous-vide und braten danach nur noch das Fett an. Das Ganze wird dann richtig buttrig, weil das Fett keine Fasern mehr hat. Die glacierte Lammzunge garen wir bei 68 Grad während 40 Stunden in zehn Prozent Salzgehalt, das Lammbries kommt zwei Stunden ins Salzwasser und gart dann eine Stunde bei 68 Grad. Dazu gibt es geräucherte Eigelbkonfitüre. Die eingelegte Jungzwiebel garen wir während 96 Stunden bei 95 Grad und so weiter und so fort. So betrachtet stecken in diesem Gericht zusammengezählt etwa 150 Stunden Arbeit.

Wie reagieren die Gäste darauf?
So detailliert erklären wir das nicht. Es reicht, wenn der Gast weiss, dass da unter anderem eine glacierte Lammzunge auf dem Teller liegt. Wir wollen niemanden überfordern, das Ganze soll zugänglich wirken. Essen muss Spass machen.

Apropos Spass: Was für ein Typ sind Sie eigentlich?
Kochtechnisch oder menschlich?

Gibts einen Unterschied?
Schon. Wir arbeiten hier sehr viel auf sehr engem Raum. Ich versuche, alles freundschaftlich zu halten. Wenn die Gäste da sind, weiss jeder, was er zu tun hat. Aber ich bin sicher mehr Freund als Chef, solange der Respekt stimmt. Als Koch wiederum bin ich Perfektionist, im Wissen, dass man Perfektion nicht erreichen kann. Aber wenn meine Köche meinen, ein neues Gericht ist fertig ausgearbeitet, bin ich meistens noch nicht zufrieden. Das ist dann nicht immer einfach, aber ich behaupte, es ist der richtige Weg.

Wie entstehen bei Ihnen neue Gerichte?
Eigentlich immer in der Küche und im Team. Tobias Vetsch war zuvor bei Reto Lampart, Eva Brandl kommt von Bobby Bräuer, ebenfalls aus einer Zwei-Sterne-Küche. Und ich durfte ja auch bei ein paar guten Köchen lernen. Bei einem neuen Gericht nehmen wir alle irgendwo Einfluss. Wir reden viel miteinander, darüber, was wir Neues machen könnten und wie das gehen könnte. Die Ideen werden ausprobiert, bis etwas passt.

Wie lange dauert das in der Regel?
Ich serviere kein Gericht, das nicht ausgereift ist. Diesen Fehler mache ich nicht. Gewisse Kreationen schaffen es nie auf die Karte. Und wenn wir eine Woche später dran sind als geplant, dann ist es halt so. Wir wechseln die Karte auch nicht als Ganzes, sondern nur einzelne Gänge des Menüs.

Was raten Sie einem Koch, der etwas Ähnliches plant wie Sie in Schlattingen?
Man muss wirklich dahinterstehen, denn es ist unglaublich aufwendig. Ich habe es mir am Anfang auch einfacher vorgestellt. Das Restaurant ist wie ein Baby, das laufen lernt. Wenn man die Dinge selber zahlen muss, nimmt man eben auch mal den Taschenrechner in die Hand und überlegt, ob man sich etwas leisten kann oder nicht. Ohne die Unterstützung meiner Frau und meiner Familie wäre das alles nicht möglich.

Kennen Sie jemanden mit 13 Sinnen?
Das nicht, aber ich glaube, dass während des Essens unglaublich viel passiert. Das funktioniert über die Temperatur, die Konsistenz, das Gewicht, Farben und Formen. Umami finde ich extrem interessant, wir werden davon gesteuert. Lesen Sie mal die Inhaltsstoffe von Aromat. Da ist sensationelles Zeug drin, abgesehen vom Glutamat. Ich habe vor einem halben Jahr einen Löffel Muttermilch probiert, das ist Umami pur. In England gibt es jemanden, der macht daraus sogar Glace. Einen Moment lang habe ich mir das auch überlegt, so viel Mut hatte ich dann aber nicht.

Sie scheinen aber klare Vorstellungen zu haben, wo Sie hinwollen.
Wir kochen nicht für Auszeichnungen, sondern für zufriedene Gäste. Natürlich sind wir stolz auf die 16 Punkte und den Stern. Aber wir versuchen auch, uns weiterzuentwickeln. Es ist mein persönlicher Ehrgeiz, herauszufinden, was noch alles möglich ist.

Cornelius Speinle (30) wollte bereits als Kind unbedingt Koch werden. Die Lehre absolvierte er in seiner Heimatstadt Schaffhausen im Theaterrestaurant unter der Leitung von Roger Werlé. Es folgten zwei Jahre im Basler Hotel Les Quatre Saisons, in dem mit 18 Punkten dotierten Gourmetlokal von Peter Moser. Dort lernte er seine zukünftige Frau Kirstin kennen. Zu seinem 20. Geburtstag schenkte sie ihm eine deutsche Ausgabe des Guides Michelin, in der Speinle seine nächsten Arbeitgeber fand. 2008 zog er für ein Jahr zu Klaus Erfort (Gästehaus Erfort, Saarbrücken), der damals eben erst mit dem dritten Stern ausgezeichnet worden war. Es folgte ein Stage beim ebenfalls dreifach besternten Sven Elverfeld (Restaurant Aqua, Wolfsburg). Ab 2009 arbeiteten Kirstin und Cornelius Speinle gemeinsam im Restaurant Jaan par André im Swissôtel The Stamford in Singapur. Sie als Sommelière, er als Sous-Chef von André Chiang. Kochtechnisch prägend waren dann vor allem die 18 Monate, die Speinle im Restaurant The Fat Duck von Heston Blumenthal in London verbrachte. Zurück in der Schweiz eröffnete er 2014 zusammen mit seiner Frau und einem Koch das Restaurant Dreizehn Sinne im Huuswurz in Schlattingen. Bereits im ersten Jahr wurde er von Gault & Millau zur Entdeckung des Jahres gekürt und mit 15 Punkten ausgezeichnet, 2015 folgten ein weiterer Punkt sowie der erste Michelin-Stern. Seit Februar sind Kirstin und Cornelius Speinle zudem stolze Eltern eines Sohns.

Restaurant Dreizehn Sinne, Obstgartenstrasse 5, 8255 Schlattingen, 052 657 17 29, www.dreizehnsinne.ch



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