Bergbauer mit Biss

Er hat nicht die grössten Kartoffeln, aber vielleicht die besten: Zumindest sehen das rund 70 Schweizer (Spitzen-)Köche so. Die Geschichte von Landwirt Marcel Heinrich ist beispiellos.
Interview: Sarah Kohler – Fotos: Stefan Kaiser
Veröffentlicht: 06.08.2019 | Aus: Salz & Pfeffer 5/2019

«Ich weiss heute, wie ein Koch denkt, ich kenne seine Bedürfnisse.»

Schön haben Sie es hier.
Marcel Heinrich: Nicht wahr? Als ich im Jahr 2001 den Hof von meinen Eltern übernahm, hinterfragten wir alles: Ich war voller Tatendrang und hatte viele Ideen. Wir verabschiedeten uns damals beispielsweise von den Hochleistungskühen und setzen seither auf Rätisches Grauvieh, das mit dem Futter von hier gut auskommt. Wichtig war uns immer auch, dass uns der Hof Freude macht: Er soll mehr sein als nur ein Produktionsbetrieb – ein Zuhause. Deshalb tun wir jedes Jahr nicht nur was fürs Geld, sondern auch was fürs Gemüt.

Wofür sind Ihre Bergkartoffeln?
Für beides. Klar, die Kartoffeln sind heute unser Hauptgeschäft. Aber als wir hier starteten, war das nicht abzusehen. Wir hatten damals rund 30 Are Kartoffelacker – also einen Bruchteil dessen, was wir heute bewirtschaften. Schon meine Eltern pflegten gute Kontakte zur Gastronomie und belieferten Restaurants in der Umgebung. Das übernahm ich. Bis zu einem Schlüsselerlebnis.

Erzählen Sie.
Ich war in Savognin auf Auslieferung. Als ich da mit meinem Sack Kartoffeln in der Küche des Lokals stand, beachteten mich die Köche kaum und wiesen mich an, die Kartoffeln im Keller in die Kiste hinten rechts zu werfen. Ich ging runter, fand die Kiste und merkte, dass da schon Kartoffeln drin waren: konventionelle, aus Holland. Und ich sollte nun meine Biokartoffeln dazuschütten! Zu dieser Zeit machten wir alles von Hand – wirklich alles. Ich wusste: Das geht so nicht, da fehlt die Wertschätzung. Entweder hören wir mit den Kartoffeln auf, oder wir gehen einen anderen Weg.

Sie entschieden sich fürs Zweite.
Ich war schon immer neugierig und überzeugt davon, dass es möglich ist, die Dinge etwas anders anzugehen, ja. Also wagten wirs. Ich erinnere mich, dass ich in einem Brockenhaus einmal ein kleines Schild entdeckte, auf dem stand: Alle sagten, das geht nicht – aber dann kam einer, der das nicht wusste, und hats gemacht. Das beschreibt den Moment damals recht gut. Mein Vater sorgte sich, dass wir uns mit den alten Kartoffelsorten Krankheiten auf den Hof holen könnten, nicht ganz zu Unrecht natürlich. Und die anderen Bauern schauten komisch, weil wir zu dieser Zeit total antizyklisch handelten. Damals bekam man ja vor allem Direktzahlungen pro Kuh, und es wäre finanziell vernünftiger gewesen, einfach Futter für die Tiere zu produzieren. Stattdessen entschieden wir uns für den Ackerbau und setzten mehr Kartoffeln. Das waren schon noch andere Zeiten.

Inwiefern?
Damals krähte echt kein Hahn nach diesen alten Sorten. Wir pflanzten 2003 die ersten Pro-Specie-Rara-Kartoffeln und knüpften bald erste Kontakte zu einem Grossverteiler. Ein erster Versuch, die alte Sorte Parli zu lancieren, erwies sich aber als schwierig: Die Zeit war nicht reif. Auch die Köche verstanden nicht, was wir hier taten. Sie waren in erster Linie mit den Kocheigenschaften der Bergkartoffel überfordert. Sie hat immerhin eine um einen Viertel längere Kochzeit.

Was unterscheidet die Bergkartoffel noch von einer «normalen» Knolle?
Einen Einfluss haben sicher das intensive Sonnenlicht, das zu einer anderen Struktur der Pflanze führt, und die guten, sandigen Böden in den Bergen. Entscheidend ist aber auch, dass wir unsere Kartoffeln nicht mit künstlichem Stickstoff pushen. Wir arbeiten schlicht mit unserem Hofdünger und setzen auf den natürlichen Stickstoff aus der Vorkultur. Man kann sich das so vorstellen: Eine Kartoffel steckt voller Zellen. Wenn man sie nun aufbläst – also pusht –, werden die Zellen grösser, der prozentuale Anteil an Zellen nimmt ab. Nun ist aber die Zellwand, in der die Stärke eingelagert ist, der eigentliche Geschmacksträger. Deshalb schmecken nicht «aufgeblasene» Bergkartoffeln intensiver und enthalten mehr Stärke.

Und das erkannten die Köche nicht auf Anhieb als Vorteil?
Damals interessierte der Geschmack einer Kartoffel einfach niemanden. Die Wertschätzung fehlte, genau wie die Erkenntnis, dass es auch bei ihr Qualitätsunterschiede gibt. Dabei ist die Kartoffel so ein cooles Produkt.

Warum?
Sie ist ein Nachtschattengewächs; allein das ist doch spannend. Und man sagte ihr früher allerlei Sachen nach, dass sie aphrodisierend wirke, zum Beispiel. Dazu kommt die Geschichte mit dem Solanin: Im Prinzip ist die Pflanze giftig.

Ausserdem gilt die Kartoffel als Königsdisziplin im Ackerbau.
Ja, weil sie echt heikel ist und unglaublich viele Feinde hat. Man sagt ja, der dümmste Bauer habe die grössten Kartoffeln – aber wer das behauptete, war nicht der Schlauste. Es kann durchaus vorkommen, dass einer ohne grosses Zutun riesige Knollen erntet: per Zufall. Die Schwierigkeit ist, über mehrere Jahre eine konstante, gute Qualität zu haben. Und mit den alten Sorten ist es noch einen Zacken komplizierter; die wurden nicht wie manche moderne Varietäten mit Resistenzen gezüchtet. Wir mussten also erst herausfinden, welche Sorten bei uns funktionieren – und auch solche, die im Markt super ankamen, wieder abschreiben, weil sie für gewisse Krankheiten zu anfällig und nicht in Bioqualität anbaubar waren.

Heute kultivieren Sie 46 Sorten.
Von denen vielleicht 42 funktionieren. Der Rest ist eben fürs Gemüt. Das mag schlecht fürs Geschäft sein, ist aber gut für mich – neue Sorten auszuprobieren, ist meine Leidenschaft.

Welche davon ist für Sie momentan besonders spannend?
Ach, das ist ein bisschen wie mit Kindern. Ich kann nicht sagen, dass ich eins lieber hätte als das andere. Die Weissen Lötschentaler zum Beispiel sind super, weil sie sehr dankbar sind und kaum Ärger machen. Auf der anderen Seite ist die Highland Burgundy Red toll; die vermutlich schwierigste Sorte, die ursprünglich aus Schottland stammt und mit der wir die ersten vier, fünf Jahre nur Probleme hatten. Jede Kartoffel hat ihren Charakter, und es braucht Zeit, diesen kennen zu lernen. Heute weiss ich, welche Sorte welchen Boden mag, sodass sie gut gedeiht und den besten Geschmack entwickelt.

Sie geben Ihre Erfahrung auch weiter.
Ja, ich machte zum Beispiel das Mentoring für zwei junge Bauern im Aostatal, die vor fünf, sechs Jahren ein Bergkartoffel-Projekt starteten. Das unterstütze ich gern, weil ich es wichtig finde, dass wir Bauern frei bleiben. Und das tun wir, indem wir etwas produzieren, das am Markt tatsächlich gefragt ist. Freiheit ist für mich elementar. Dass ich meine Meinung sagen kann, zum biologischen Landbau etwa.

Ja?
Es gibt für mich nichts anderes: Bio ist logisch. Wenn ich eine Handvoll Erde nehme, befinden sich darin mehr Organismen als Menschen auf der Welt. Das weiss man, aber wirklich erforscht sind die Kreisläufe, die ganzen Abhängigkeiten nicht. Verrückt! Klar ist aber: Wenn ich da irgendeine fremde chemische Substanz reingebe, stirbt von diesen Milliarden Organismen ein Teil – und das bringt die Kreisläufe durcheinander. Im Biolandbau füttern wir deshalb nicht in erster Linie die Pflanze, sondern düngen die Mikroorganismen; denn je lebendiger, desto fruchtbarer ist ein Boden. Mag sein, dass wir im ersten Moment weniger Ertrag haben als unter Einsatz von künstlichem Stickstoff – auf lange Sicht ist es für mich aber der einzige Ansatz. Wir Bauern müssen dem Boden und allem, was sich rund um den Acker herum befindet, Sorge tragen, sodass auch kommende Generationen ihn bewirtschaften können.

Sie haben sich als Verfechter des Biolandbaus einen Namen gemacht. Und nicht nur Freunde gewonnen.
Das ist klar. Wir erhalten mit unseren Bergkartoffeln viel Aufmerksamkeit, auch medial. Das ruft automatisch Neider auf den Plan. Und indem wir eine klare Haltung zeigen, bieten wir auch Angriffsfläche. Ich bin aber überzeugt von dem, was wir tun, und möchte zeigen, dass es möglich ist, einen alternativen Weg einzuschlagen – und damit Geld zu verdienen. Wir hatten sieben extrem schwierige Jahre, in denen es zwar Hochs gab, vor allem aber auch richtig schlechte Phasen, in denen keiner mehr daran glaubte, dass aus den Bergkartoffeln noch was wird – nicht einmal meine Frau. Und die Experimente, die wir machten, waren schon gefährlich: mit einer Familie, mit Schulden, ohne zu wissen, wohin der Weg führt. In der Anfangsphase gab ich im Winter zusätzlich bis zu sechs Wochen Holzerkurse – damit sicher Geld reinkommt.

Ein wichtiger Pfeiler in der Geschichte der Bergkartoffeln ist Ihr heutiger Geschäftspartner Freddy Christandl.
Auf jeden Fall, und aus der Geschäftspartnerschaft ist eine Freundschaft geworden, aus einem Experiment eine elfjährige Zusammenarbeit. Ich lernte Freddy nach unserem Hoffest 2006 kennen. Wir wurden damals total überrannt; irgendwie waren sogar Flyer davon auf dem Hauptbahnhof Zürich gelandet, und die Leute kamen in Scharen. Darunter Freddy, damals 16-Punkte-Koch im Chrueg in Wollerau, der sich später meldete und von den Bergkartoffeln begeistert war. Zuerst wurde er Kunde: Wir lieferten, er experimentierte herum, und wir lernten uns besser kennen. Wissen Sie: Für mich sind die Bergkartoffeln wirklich wie Kinder, und es fällt mir deshalb heute noch schwer, den Lead abzugeben. Das liegt wohl auch daran, dass wir für den Erfolg der Bergkartoffeln jahrelang kämpften. Ich war, was Kooperationen angeht, aufgrund einiger Erfahrungen vorsichtig geworden. Aber irgendwann sagte ich mir: Warum nicht? Freddy ist ein begnadeter Koch – und genau solche Menschen müssen wir mit unserem Produkt doch erreichen.

Wie konnte er damals helfen?
Vor allem mit seinem Netzwerk. Ich brachte einen Viehwagen voll Kartoffeln in seine Garage, und er fing an, sie zu verteilen. Von da an wuchs unser Engagement in der Gastronomie. Mir war die Sortenvielfalt stets wichtig, und weil wir mit den Köchen eben auf viele Einzelabnehmer setzen statt auf einen Grossverteiler, können wir diese erhalten.

Ist es Ihnen gelungen, den Stellenwert der Kartoffel in der Schweiz zu verändern?
Ich glaube, das dürfen wir so sagen, ja. Und auch da gibts einen Schlüsselmoment: Christian Kaiser, der 2007 noch im Hotel Alpina in Klosters kochte, bestellte zwei Tonnen Bergkartoffeln aufs Mal – das war damals eine riesige Bestellung. Als wir sie lieferten, stand die komplette Küchencrew bereit, um beim Ausladen zu helfen. Da wusste ich: So gehts. Heute arbeiten wir mit vielen coolen Köchen zusammen, die uns vertrauen und hinter den Bergkartoffeln stehen. Das ist ein Glück!

Sie kennen jeden einzelnen Ihrer Abnehmer aus der Gastronomie.
Ja, zurzeit werden die Bergkartoffeln in rund 70 Restaurants verarbeitet – und ich möchte jeden Koch kennen, der das tut. Schliesslich hängt unser Image davon ab: Wenn einer die Bergkartoffeln permanent verkochen würde, litte irgendwann der Ruf des Produkts. Aber Freddy besucht jeden Neukunden, hilft bei der Sortenwahl und gibt Tipps. Dank unserer Zusammenarbeit – also von Koch und Bauer – können wir recht gut Einfluss nehmen.

Apropos: Hat die enge Zusammenarbeit mit Köchen Ihre Produktion verändert?
Ganz stark, ja. Da entstanden in der Zwischenzeit richtig enge Freundschaften, und gewisse Sorten bauen wir tatsächlich für einzelne Köche an. Ich weiss heute, wie ein Koch denkt, kenne seine Bedürfnisse. Mir ist zum Beispiel klar, dass er ab einem gewissen Grad an Schorf auf der Schale deutlich mehr Aufwand beim Rüsten hat. Köche, die Bergkartoffeln verarbeiten, schälen generell länger als ihre Kollegen – aber sie entscheiden sich trotzdem für uns. Das ist grossartig. Dafür stehen wir mit unserem ganzen Team einmal im Jahr einen Tag bei Hansjörg Ladurner in der Küche des Scalottas in Lenzerheide: damit wir sehen, was alles dahintersteckt und was für einen Koch wirklich zählt.

Die Bergkartoffel aus dem Albulatal wächst auf sandigen Böden auf zwischen 1000 und 1500 Metern über Meer: In viel Handarbeit wird sie von Marcel Heinrich auf dessen Biohof Las Sorts in Filisur kultiviert. Der 47-Jährige hatte ursprünglich Forstwart gelernt, entdeckte in jungen Jahren auf einer neuseeländischen Farm dann aber doch die Liebe zum Berufsstand seiner Eltern und übernahm 2001 den Hof der Familie. Hier lebt er mit seiner Frau Sabina und den drei gemeinsamen Töchtern sowie einigen Tieren. 2003 startete Heinrich erste Experimente mit dem Anbau alter Kartoffelsorten: Nach sieben mageren Jahren entwickelte sich die Bergkartoffel, die über einzigartige Kocheigenschaften verfügt, kontinuierlich zum begehrten Produkt, insbesondere in Schweizer Spitzenküchen – nicht zuletzt dank der Geschäftspartnerschaft mit dem Koch und Genusstrainer Freddy Christandl. Heute zieht Heinrich auf rund vier Hektaren 46 verschiedene alte Kartoffelsorten.

Biohof Las Sorts, 7477 Filisur, 081 404 16 15

www.lasorts.ch, www.bergkartoffeln.ch



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