Seelsorger der Seelsorger

Im Auftrag der Stadtmission Basel kümmert sich Bernhard Jungen um die Anliegen von Gastronomen. Sein Trumpf: In Bern hat der Pfarrer selber eine Bar.
Interview: Sarah Kohler – Fotos: Jürg Waldmeier
Veröffentlicht: 23.02.2021 | Aus: Salz & Pfeffer 1/2021

«Wir alle brauchen jemanden, bei dem wir den Chropf leeren können.» 

Warum sorgt die Kirche ausgerechnet für die Seele der Gastronomen?
Bernhard Jungen: Das begann 1926 mit einer Frau Bischoff, die damals Direktorin im Hotel Baslerhof in Bettingen war und die Probleme der Branche kannte. Der Grund ist ein ganz pragmatischer: Wirte, Köche und Co. arbeiteten sonntags, und so kam die Kirche auf anderem Weg zu ihnen. Früher gab es das Angebot in der Schweiz häufiger, heute kenne ich in der Deutschschweiz noch die Gastroseelsorgerin Corinne Dobler im Aargau. Die Stadtmission Basel definiert meine Aufgabe als aufsuchende Seelsorge. Das ist der Unterschied zu den traditionellen kirchlichen Angeboten, die darauf bauen, dass da ein Haus ist, dessen Türen offenstehen. Ich aber gehe raus zu den Leuten.

Wie soll man sich das vorstellen?
Gespräche lassen sich nicht organisieren, sie entstehen. Ich betrete eine Beiz und bestelle zuerst etwas. Ich setze mich so, dass ich Kontakt mit den Mitarbeitern aufnehmen kann, in die Nähe der Bar, zum Beispiel. Ich sehe immer etwas Positives: Vielleicht schmeckt der Keks zum Kaffee besonders gut, vielleicht ist der Service sehr herzlich, vielleicht gefällt mir die Einrichtung. Es entspricht meinem Naturell, das zu sagen, und in der Regel dauerts nicht lang, bis die Frage kommt, warum ich mich so explizit interessiere. Dann erkläre ich, wer ich bin und was ich mache.

Welche Reaktionen erhalten Sie darauf?
99,9 Prozent positive. Soll ich ein paar Beispiele erzählen?

Gern.
Nehmen wir meinen ersten Arbeitstag. Ich hatte Respekt vor der Aufgabe, ganz ehrlich, als ich im Gundeliquartier die Rolltreppe runterkam und die Strasse vor mir sah, in der sich eine Beiz an die andere reihte. Da bist du jetzt die nächsten Jahre, dachte ich. Es war ein Moment, in dem ich – etwas fromm gesagt – besonders auf Hilfe von oben angewiesen war. Ich betrat also diese Beiz, in der es zuging wie im Bienenhaus, und mir war gleich klar, dass hier kein vernünftiges Gespräch entstehen kann, weil die Leute zu tun haben. Also las ich Zeitung und wartete. Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter: Hoi Papi! Da stand mein Sohn, der in Bern wohnt, an genau diesem Tag einen Termin in Basel hatte, an genau diesem Lokal vorbeiging und nur kurz innehielt, weil ihm das Interieur aufgefallen war. Ein Steilpass für mich, da kam der Prediger in mir zum Vorschein. Ich stand auf und sagte zu den Mitarbeitern an der Bar: Schaut euch das an! Hierher ins Café del Mundo kommen tatsächlich Leute aus der ganzen Welt – und ich treffe unverhofft meinen Sohn, der wie ich in Bern lebt. Das Gespräch war lanciert, und am Ende gab mir die Chefin ihre Karte und lud mich ein wiederzukommen. Sie habe viele Themen, die sie gern bereden würde.

Eine durchaus gelungene Premiere.
Und es ging weiter. An meinem zweiten Arbeitstag versuchte ich in einer anderen Beiz, mit dem Wirt ins Gespräch zu kommen. Es blieb beim Small Talk. Dann betrat ein Typ das Lokal und begrüsste mich, als würden wir uns kennen. Ich sprach ihn darauf an. Er habe mich schon gesehen, sagte er, und es stellte sich raus, dass ihm das Lokal nebenan gehört. Er fand meine Arbeit wertvoll, lud mich abends in seinen Betrieb ein, stellte mich allen Mitarbeitern vor – und hatte gleich noch eine Idee.

Nämlich?
In seiner Beiz gibts ein kleines Schaufenster, dass abwechselnd von Leuten dekoriert wird. Für einen Monat gehörte es mir. Als Hobbyfotograf lichtete ich verschiedene Mitarbeiter der Gastronomie in der Nachbarschaft ab, machte daraus eine Ausstellung und bedankte mich mit einem Schild bei all den Menschen, die das Quartier mit ihrem Engagement lebendiger und gastfreundlicher machen. Dabei lernte ich jeden Tag mehr Gastronomen kennen.

Warum brauchen grade die einen Seelsorger?
Weil sie es sind, die ein offenes Ohr für die Leute im Quartier haben und mit ihrer Arbeit vielen Menschen den Rücken stärken. Ich verstehe mich als Seelsorger der Seelsorger. Wir alle brauchen jemanden, bei dem wir den Chropf leeren können. Aber wenn einer auf dieser Ebene nicht ins Gespräch einsteigen mag, sage ich vielleicht: Schau, in Bern habe ich selber eine Beiz, die mobile Unfassbar. Man braucht also nicht zwingend ein Problem, um mit mir in Kontakt zu kommen. Wir können auch ein Fest ausrichten oder in einem Betrieb aushelfen, indem wir mit der Velobar den Bierausschank übernehmen.

Sie bleiben aber auch dabei der Pfarrer, oder?
Ich habe meinen Beruf immer als Berufung empfunden. Wobei: Als Kind wollte ich Clown werden. Dann wurde ich Lehrer. Ich habe ein ADHS und war ein schwieriger Schüler, der bei vielen Lehrern aneckte. Aber jene, die mich mit meiner Schlagseite nehmen konnten, liebte ich heiss. So einer wollte ich werden. Am Ende interessierte es mich einfach zu wenig, trockenen Schulstoff zu vermitteln. Und weil ich mich in meiner Freizeit immer mehr in kirchlichen Feldern engagierte, studierte ich schliesslich Theologie und wurde Pfarrer. Heute habe ich allerdings schon fast wieder das Gefühl, doch beim Clown gelandet zu sein.

Wie das?
Ein Pfarrkollege fragte mich mal, ob ich mich nicht ein bisschen schäme, weil ich als angesehener Pfarrer, der das Vorrecht hatte, jeden Sonntag in einer vollen Kirche zu predigen, mit meinem Velo zum Marktfahrer geworden sei.

Eine seltsame Frage.
Für mich ist es eine Ehre, den Menschen in ihrer Vielfalt Gastgeber zu sein. In der Arbeit als Gastroseelsorger ist mein Respekt vor der Leistung, die die Menschen in dieser Branche erbringen, noch einmal stark gewachsen. Tatsächlich verkörpern Gastronomen gleich mehrere Gottesbilder, die meinen Glauben definieren und mir eine treibende Kraft sind. Den Gott der zweiten Chance zum Beispiel.

Das müssen Sie erklären.
Gastronomen sind unglaublich resilient, wenn es darum geht, wieder aufzustehen. So viele fielen schon auf die Schnauze – und fingen nochmals an. So viele versuchen es an einem Standort, an dem schon sieben vor ihnen aufhören mussten. Das möchte ich unterstützen, weil ich an den Gott der zweiten Chance glaube. Scheitern ist keine Katastrophe, die Hoffnung ist stärker.

Sie sprachen von mehreren Gottesbildern.
Gastronomen sind auch ein Beispiel für den Gott der Berufung. Es gibt in dieser Branche mehr Leute als in anderen, die ihren Beruf als solche verstehen. Und Gastronomen verkörpern für mich auch den Gott der Umarmung, einer Bewegung, die ich bei Jesus schon sehe. Der war ja übrigens sehr viel in Beizen, man nannte ihn gar den Fresser und Säufer. Tatsächlich verstehe ich Gott ganz fest als Beziehungswesen, und genau dafür steht doch die Gastronomie. In der Beiz kommen Menschen zusammen, Jung und Alt, verschiedener Herkunft und Klassen, und der Wirt ist für alle gleichermassen da. Deshalb leidet die Branche in der Corona-Zeit so wahnsinnig: Man will Beziehungen unterbinden. An dieser Front sind Gastronomen am vulnerabelsten.

Zitieren Sie in Ihren Gesprächen als Gastroseelsorger die Bibel?
Wenn es passt: warum nicht? Aber es muss nicht sein, um Gottes Willen! In der Gastronomie gibts ja längst nicht nur gläubige Christen. Und das ist spannend.

Was hat Sie in Ihrer Arbeit mit Gastronominnen und Gastronomen überrascht?
Die positiven Reaktionen diesem kirchlichen Angebot gegenüber. Als Gemeindepfarrer hatte ich oft das Gefühl, mich legitimieren zu müssen. Jetzt, da ich rausgehe, bin ich überwältigt von der Dankbarkeit, die mir entgegenschlägt. Und sonst? Was menschliche Abgründe angeht, haut mich kaum was um. Das mag überheblich klingen, aber dafür bin ich zu alt. Ich stamme selbst aus herausfordernden Familienverhältnissen mit einem depressiven Vater, der sein Problem manchmal mit Alkohol «kurierte». Ich habe meinen achtjährigen Sohn an Krebs verloren. Mich überrascht nichts mehr. Das heisst aber nicht, dass mich nichts berührt. Ich weine viel. Die Grenze zwischen Seelsorge und Freundschaft ist fliessend; wenn ich einen Menschen begleite, werde ich manchmal zu einem Vertrauten für die ganze Familie. Das Wort Seelsorge ist etwas irreführend: Es geht immer um den ganzen Menschen.

Wo hören Ihre Möglichkeiten auf?
Ich kann etwa einem Drogenabhängigen eine Weile zuhören, mich auf seine Welt sogar ein Stück einlassen, aber ich muss ihn an einen Spezialisten verweisen. Und ich kann keine finanziellen Probleme lösen, was gerade mit Corona ein Thema ist. Klar, ich kaufe mit dem Spesenbudget momentan auch mal einen Restaurantgutschein oder unterstütze privat eine kleine Aktion. Sonst kann ich einfach da sein. Zum Glück ist in den letzten Jahren ein gutes Beziehungsnetz entstanden, sodass ich in Kontakt bleiben, auch wenn ich die Leute nicht im Betrieb aufsuchen kann. Ich rufe an, schreibe eine Nachricht, frage nach.

Welchen Eindruck haben Sie: Wie geht es der Basler Gastronomie zurzeit?
Die Branche ist sehr heterogen; es gibt jene, die an einem für Take-away geeigneten Standort überleben, und es gibt jene, die vor Verzweiflung nur noch weinen. Man muss verstehen, dass da Lebensträume dranhängen. Und wir dürfen nicht vergessen, wie vielen Menschen, beispielsweise solchen mit Migrationshintergrund, die Gastronomie eine Familie bietet. Es gibt kaum eine andere Branche, in der so viel Integration passiert. Ich glaube, dass Leute, die sagen, man solle die Gastronomie jetzt gesundschrumpfen, unterschätzen, welche sozialen Probleme daraus entstehen.

Haben Sie in der Krise mehr zu tun?
Ich treffe vor allem andere Probleme an als sonst. In erster Linie sind Mitarbeitende in der Gastronomie Menschen. Da gibts Ehen, die nicht funktionieren, vielleicht einen gewalttätigen Partner oder Mühe mit dem Alkoholkonsum. Momentan dominiert die Pandemie, klar. Und es gibt eine Frage, die zurzeit viele umtreibt.

Welche denn?
Warum trifft es auch die Guten? Dahinter steckt vielleicht das Weltbild, dass einem nichts Schlechtes widerfährt, wenn man fleissig ist und alles richtig macht. Covid-19 zeigt, dass das nicht zwingend stimmt. Allerdings bin ich der Meinung, wir sollten nie erwarten, dass uns nichts Aussergewöhnliches zustösst. Und gerade in der Nacht sehen wir das Licht besonders hell: In der Krise können wir Freundschaft oder Hilfe besonders intensiv erleben. Und vielleicht auch Gott.

Zur Person
Im Auftrag der Stadtmission Basel amtet Bernhard Jungen (64) seit 2017 als Gastroseelsorger und kümmert sich um die Anliegen von Beizern, Köchinnen und Servicemitarbeitern. Zuvor fungierte der studierte Theologe drei Jahrzehnte lang als Pfarrer der Berner Gemeinde Ittigen, in der er mit seiner Frau lebt. Den Entschluss, sich selbstständig zu machen, fasste Jungen mit dem Ziel, sich vermehrt ausserhalb der Kirche für seinen Glauben zu engagieren. Seit 2017 tut er das ausserdem zusammen mit dem Berner Pfarrer Tobias Rentsch: Die beiden betreiben die Unfassbar, eine mobile Velobar, mit der sie nicht nur das Craftbier Pfaff aus der Schmitte Jegenstorf auf die Strasse bringen, sondern eben auch den Dialog. Das Projekt läuft unter dem Dach der Reformierten Kantonalkirche und der Kirchgemeinden der Stadt und Region.
stadtmissionbasel.com/gastro
unfassbar.ch

Vielen Dank!
Das Interview mit Bernhard Jungen durften wir im Hotel National in Bern führen. Wir bedanken uns herzlich für die unkomplizierte Gastfreundschaft.
nationalbern.ch



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