Resten essen vom Nachbarstisch

Was passiert, wenn man bei drohendem Food Waste am Nebentisch beherzt einschreitet? Ein Erfahrungsbericht.
Text: Monsieur Tabasco
Veröffentlicht: 06.04.2021 | Aus: Salz & Pfeffer 2/2021

‹Hey, ässeter nöd uf?›

«Mich nervts immer kolossal, wenn Leute sich am Buffet Berge auf den Teller häufen und dann die Hälfte davon zurücklassen. Ist doch eine verdammte Respektlosigkeit gegenüber der Natur, ehrlich. Wenn ich so was beobachte, würde ich die Leute am liebsten drauf ansprechen. Schon seit Jahren. Das andere ist der Podcast dieses schlauen Psychologen, den ich ab und zu höre. Einmal hat er erzählt, es sei sehr gesund, zwischendurch mal etwas zu machen, bei dem man richtig auffalle und sich blamiere. Als Übung für sich selber. Er selber zum Beispiel laufe gelegentlich grundlos mit weit nach oben gestreckten Armen durch die Strassen. Nur um die schiefen Blicke zu ertragen. Und das unangenehme Gefühl, aufzufallen. Das fand ich inspirierend.

Du kannst dir ja vorstellen, was sich bei mir entwickelte. Ein paar Wochen später sind Tom und ich in den Skiferien im Toggenburg und wollen auf dem Chäserrugg Zmittag essen. Das war noch vor Corona. Das Restaurant ist relativ voll, also setzen wir uns zu zwei andern Gästen an den Tisch. An einem Tisch weiter vorne sitzt eine Familie. Die hat ordentlich Pommes frites bestellt und höchstens die Hälfte davon gegessen, in drei Tellern hat es noch reichlich davon. Ja, in Tellern, nicht Schüsseln. Dann schiesst mir wieder dieser Gedanke in den Kopf. Tom schaut mich an. Er kennt mich. Er schluckt leer, fängt an zu schwitzen, sagt ‹ohne mich› und ergreift die Flucht in Richtung Buffet.

Mir schlägt das Herz bis in den Hals. Ich gebe mir einen Ruck und stehe auf. Natürlich schön beobachtet von den andern Gästen an unserem Tisch. So gehe ich zum Familientisch hinüber und frage zuckersüss: ‹Tschuldigung, taar i si näbis fröge? Sind Sie fertig mit ässe?› Alle starren mich an. Der Vater, perplex: ‹Äh, jo.› Und ich: ‹Loset Si, hettet Si näbis degäge, wenn i eri Räschte no wör ässe?› Wie die einander angeschaut haben! Fassungslos, entsetzt und neugierig gleichzeitig. Dann die Mutter: ‹Äh, jo, also, momoll, da chönnd si scho, äh, wenn si da wörggli wönd.› Und ich: ‹Jo gärn, merci vielmal, wösset Sie, i fänds halt schad, wenn die Pommes frites fortgschosse wööret.› Dann habe ich die Pommes frites von den drei Tellern auf meinen Teller geleert und bin zurück.

Die zwei an meinem Tisch haben fast in die Tischkante gebissen. Ich habe sie angelacht und gesagt: ‹Wösset Si, da isch au för mi en asträngendi Üebig, i wäss jo, wie saupiiinlech so näbis isch.› Dann habe ich ihnen vom Podcast erzählt, und dass wir daheim am Familientisch mit den Teenies oft über Food Waste diskutieren und schon ein paar Mal gedacht haben, man müsste es doch einfach mal machen, statt nur darüber zu schwatzen.

Die Reaktion der zwei Gäste neben mir war umwerfend. Wow, das fänden sie mega cool und mutig, und eigentlich hätte ich ja voll recht. Dann kam Tom zurück, heilfroh, dass ich die Aktion schon hinter mich gebracht und mich unseren Nachbarn am Tisch erklärt hatte. Und die fingen dann an, halb entschuldigend zu erklären, warum sie ihre eigenen Teller auch nicht ganz leer gegessen hatten, und ob ich nicht noch Hunger hätte. Das war jetzt wiederum mir selber peinlich, denn ich will eigentlich nicht, dass sie sich schämen. Aber am Schluss war es so lustig, wir haben alle gelacht.

Das zweite Mal war in einer kleinen Biobeiz im Emmental beim Zmittag. Die Auberginen waren etwas zäh geraten, Mutter und Tochter nebenan assen sie nicht auf. Tom wäre am liebsten im Erdboden versunken. Hat mich brutal Überwindung gekostet. Man hat fast gesehen, was die zwei dachten: ‹Spinnts däre? Gruuset die da nüüd?› Diesen Jessesgott-Blick muss man wirklich ertragen. Aber auch diesmal folgte am Schluss ein äusserst befreiender und lustiger Wortwechsel. So lernt man Leute kennen.

In einem mexikanischen Restaurant habe ich es auch mal gemacht, an einem Samstagabend. Am Nebentisch sass ein junges Pärchen, dann kam die Servierdüse, die sie wohl auch privat kannte, und fragte: ‹Hey, ässeter nöd uf?› Sie hatten noch ordentlich Pommes frites und Maiskolben auf den Tellern. Bevor die Servierdüse abräumte, fragte ich das Pärchen, ob es für sie in Ordnung wäre, wenn ich ihre Resten essen würde. Die fanden das meeega coool und haben es rübergereicht. Auch hier wurde es nachher wieder sehr lustig. Als sie vor uns das Restaurant verliessen, haben sie sich noch bedankt, dass ich ihre Resten aufgegessen hätte.

So beim Erzählen merke ich: Es waren lauter positive Erfahrungen. Jedes Mal, für alle. Ausser für Tom, dä arm Cheib. Und mir kommt entgegen, dass ich keine Angst habe vor Viren und Bakterien. Und dass es mich allgemein lange nicht gruuset. Also, solange die Leute mir einen gesunden und sauberen Eindruck machen … Natürlich muss ich selber für so was in aufgeräumter Stimmung sein. Ich habs bis jetzt auch nur gemacht, wenn die Kinder nicht dabei waren, merke ich grad. Vermutlich, weil ich mich besser fokussieren kann auf das, was ich auslöse. Für so eine Aktion muss ich wirklich ganz bei mir sein.»



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