Nach dem Trink ins Zimmer
Die Gastronomie schreibt Liebesgeschichten! Jene von Anton Mosimann, zum Beispiel. Oder von Monsieur Tabasco höchstpersönlich.
«In der Luft liegt ein Hauch von Friedenspfeife.»
Wir befinden uns in Rheinland-Pfalz. In der Vulkaneifel. In Steinborn. Im 800°C-Restaurant, benannt nach der Hitze des Grills. Das Rib Eye vom Limousin hat 21 Tage am Knochen im Reifeschrank bei vier Grad und 85% Luftfeuchtigkeit absolviert, und wer hier «Gibts auch vegan?» fragt, wird von den übrigen Gästen wortlos in einem der kleinen Vulkanseen der Eifel ersäuft.
Sechs Mitmenschen schweizerischer und deutscher Provenienz sitzen zu Tische, unter ihnen zwei ältere Herren. Der eine bestellt stets mit einem «Isch krisch». Er ist ein pensionierter Restaurateur mit Lesebrille, die er daheim vergessen hat. Der andere hat sein Hörgerät eingeschaltet, aber Essen bestellt er nie, nein, er bittet darum, «I hätt gern». Er krischt nisch. Krisch lischt ihm nisch. Weitere Figuren im Kammerspiel: ein sonniger Kellner mit mutmasslich syrischen Eltern. Ein liebenswürdiger Asiat, der «Hat es geschmeckt?» sowie «Darf ich abräumen?» auswendig kann. Und eine rotbackige Servicefach angestellte unter Dauerstrom.
Die Wahl des Weines obliegt seit Nixons Präsidentschaft dem friedfertigen Ihätt gern. Ein Entzug dieser Verantwortung aufgrund wachsender Überforderung wäre sein Todesurteil. Nach kurzem Studium der Weinkarte erbittet er bei der Rotbackigen «den Lemberger». Das Essen kommt. Der Wein nicht. Die Bitte ging wohl unter. Wer dafür kommt, nämlich zufällig vorbei, ist der brave Asiat, bei dem der Ihättgern den Lemberger nun noch einmal bestellt. Das freundliche Geschöpf nickt so, dass allen klar ist, dass es nichts verstanden hat, und wieselt ab. Kurz darauf aber erscheint der sonnige Kellner mit einer Flasche Rotwein. Während der Ihättgern degustiert, begutachtet der Ischkrisch kritisch die Flasche in des Kellners Hand, und auch ohne Lesebrille fällt ihm auf, dass auf der Etikette fast nichts steht, vor allem nicht «Lemberger». Es ist eine Cuvée. Der Ihättgern scheint das ebenfalls zu realisieren, schlückelt aber unverdrossen und nickt dem Kellner zu. Wenn der falsche Wein schmeckt, wozu den richtigen einfordern? Krisch lischt ihm nisch.
Beim Ischkrisch verschlechtert sich das Wetter, aus heiter wird bewölkt, ein falscher Wein ist ein falscher Wein. Der Kellner, dieses Schlitzohr, wollte doch bloss die Verspätung wettmachen, bevor die Gäste ihr Rib Eye zu Ende gesäbelt haben, griff nach der ersten Flasche und dachte sich, die beiden Senioren würden es nicht merken. Die braven Schweizerinnen und Schweizer wirken leicht verspannt. Der Sinn jeglicher Konfrontation besteht in deren Vermeidung, als Kleinstaatler haben sie das verinnerlicht. Alle am Tisch wissen: Dieser Wein ist noch nicht gegessen.
Zwei, drei Bäuerchen später räumt der sonnige Kellner ab. Der Ischkrisch ergreift die Gelegenheit, also das Wort, und moniert, dieser Wein da, der sei ja doch kein Lemberger gewesen. Der Keller jedoch ist um eine Antwort nicht verlegen: «Doch, doch, eine Cuvée mit Lemberger darin.» Als er mit dem Geschirr wieder abschwirrt, steigt am Tisch die Temperatur auf gefühlt 800 Grad Celsius. In seiner Zeit als Wirt hat der Ischkrisch niemals Gäste verscheissert, und auch er will nicht verscheissert werden. Gnade Gott dem Kellner, wenn dieser die Rechnung bringt. Der Ihättgern schwitzt Blut. Scheiss Lemberger, hätte er doch bloss einen Chianti gewählt.
Der sonnige Kellner erscheint wieder, in der einen Hand die Rechnung, in der an dern die Weinkarte. Er öffnet sie, überreicht sie dem Ischkrisch, zeigt mit dem Finger auf eine Position und sagt: «Hier, die Cuvée.» Der überraschte Ischkrisch kann das Kleingedruckte mangel seiner Lesebrille nicht entziffern, und der Kellner liest es ihm vor, fröhlich und ohne die geringste Note von Triumph oder Ironie: «Cuvée, Weingut Klumpp 2018, mit Lemberger, Spätburgunder, St. Laurent und Cabernet Sauvignon.»
Der Ihättgern hatte nur «Lemberger» gelesen und bestellt. Und der Ischkrisch hatte ganz selbstverständlich mal dem Kellner misstraut. Dieser sieht ihn ungetrübt sonnig an und fragt mit einem Augenzwinkern: «Gut?» Die Runde am Tisch atmet erlöst auf, der Ischkrisch nickt, sein Lächeln verfeinert mit einer Note Schuldeingeständnis. Der Kellner lacht und tippt seinem Gast fast freundschaftlich auf die Schulter. In der Luft liegt ein Hauch von Friedenspfeife. Der Ihättgern gibt sich so unbeteiligt wie möglich, und seine Frau scheint nachzurechnen, wie viele Jahrzehnte seit Nixons Präsidentschaft vergangen sind.
Die Rotweincuvée N°1, ausgebaut im Holzfass, zeigt Aromen von Brombeeren, Kirschen und Cassis, am Gaumen ist sie fleischig, saftig und samtig. Kurz, ein aus gewogener Tropfen mit einem entspannten Abgang.