Nach dem Trink ins Zimmer
Die Gastronomie schreibt Liebesgeschichten! Jene von Anton Mosimann, zum Beispiel. Oder von Monsieur Tabasco höchstpersönlich.
Intellektuelle und charakterliche Löcher dieser galaktischen Grösse lassen sich nicht verstecken.
5. Oktober 2021. Vor dem Hotel Westin in Leipzig wird demonstriert. Gegen Antisemitismus. Auslöser ist ein Handyvideo des sensiblen Sangeskünstlers Gil Ofarim auf Instagram: Er sitzt auf dem Trottoir vor dem Hotel, streckt seine Kette mit Davidstern in die Kamera und berichtet mit brechender Stimme, was ihm beim Einchecken widerfahren sei. Nämlich, dass Rezeptionist Markus W. gesagt habe: «Packen Sie Ihren Stern ein, wenn Sie ein Zimmer wollen.»
«Wenn das stimmt», sage ich beim Znacht zu meiner Frau, «fress ich einen Besen.» Sorry, aber welcher Rezeptionist fordert in Deutschland im Jahr 2021 einen Gast auf, seinen Davidstern einzupacken – in einer vollen Empfangshalle, in der zwei Dutzend Ohren mithören? Come on. Sollte ein dermassen strunzdummer Antisemit das Einstellungsgespräch einer so durchprofessionalisierten Hotelkette wie Marriott / Westin meistern, übersteht er sicher nicht die Probezeit. Intellektuelle und charakterliche Löcher dieser galaktischen Grösse lassen sich nicht verstecken.
Ich stelle mir vor, wie der Chef de Réception den Hoteldirektor alarmiert. Wie der sich den Clip anschaut und Herzrasen kriegt. Wie er Anwälte und Security auf bietet. Wie er stossbetet, dass die Überwachungskameras in der Lobby die Unschuldsbeteuerungen des Teams an der Rezeption bestätigen.
Der Clip geht brutal viral. Vier Millionen Views. Vor dem Haupteingang wird demonstriert, die internationalen Medien fressen die Story, der Antidiskriminierungsbeauftragte mahnt, der Minister ent schuldigt sich, die Politikerin bedauert, und alle sind sie tief betroffen empört ent setzt bestürzt fassungslos. Der Shitstorm ist ein Orkan. Der sensible Sangeskünstler zeigt den Rezeptionisten wegen Volksverhetzung an, und das Hotel lässt verlauten, dieser sei suspendiert worden. «Blödsinn», knurre ich zu meiner Frau, «der wurde krankgeschrieben, damit er daheim die Morddrohungen zählen kann.»
Des Direktors Stossgebete an die Überwachungskameras werden erhört. Tatsächlich hat sich Folgendes abgespielt: Am Abend des 4. Oktober gibts an der Rezeption im Westin ein technisches Problem. Die Leute stehen Schlange. Auch der sensible Sangeskünstler. Zwei Gäste hinter ihm fragen einen Rezeptionisten, ob sie nicht bereits aufs Zimmer könnten. Es sind Stammgäste, Meldebögen brauchen sie nicht auszufüllen und die Zimmerkarten sind parat. Der Rezeptionist gibt sie ihnen; wozu Menschen warten lassen wegen eines technischen Problems, das sie gar nicht betrifft?
Als der sensible Sangeskünstler an der Rezeption ankommt, gestikuliert und schimpft er wie von Sinnen. «Scheisshotel» und «Scheissladen» sind Begriffe, die Ohrenzeuginnen und -zeugen gehört haben. Die Kamera zeichnet auf, wie er dreimal die Hände zusammenklatscht. Anwesende zitieren, was er an dieser Stelle gerufen hat: «Das geht dann viral, bääm, bääm, bääm!» Aber keiner der 30 Befragten hat eine antisemitische Beleidigung mitbekommen. «Wenn Ofarim wirklich auf diese Weise antisemitisch beleidigt worden wäre», sagt eine Betriebsrätin, die direkt nebenan stand, «dann hätte ich ein gegriffen.» Und die Kette mit dem Davidstern? Die Zeugen und Zeuginnen lassen keinen Zweifel aufkommen und die Kameras schon gar nicht: Er hat sie entweder gar nicht oder zumindest nicht sichtbar getragen.
Fünf arbeitsreiche Monate später lässt die Staatsanwaltschaft des Sangeskünstlers Anzeige wegen Volksverhetzung fallen und ermittelt gegen ihn selber wegen Verleumdung. Die Instagram-Empörten verstummen, die Medien winden sich («möglicherweise», «mutmasslich», «allenfalls», «offenbar»), der Shitstorm dreht. Jetzt kriechen die Antisemitinnen und Antisemiten aus ihren Löchern und der Sangeskünstler kriegt ab, was er selbst losgetreten hat. Und Hoteldirektor Andreas Hachmeister beziffert die direkten messbaren Kosten für das Westin auf weit mehr als 100000 Euro, den Imageschaden nicht eingerechnet, und ja: «Für mich persönlich hat sich am 5. Oktober ein Teil meines Lebens geändert.»
So ist das heute. Expressempörte harren auf jemanden, der ihre Wut entfacht. Medienschaffende springen auf und zerren präventiv-devote Politiker und schockierte Interessenvertreterinnen vors Mikrofon, noch bevor halbwegs solide Details bekannt sind. Primadonnen geben die Nachtigall, doch backstage toben sie, wenn sie nicht so hofiert werden, wie es ihnen ihrer Meinung nach zusteht. Eigentlich könnte es so einfach sein, zu erkennen, wann eine Story zu gut ist, um wahr zu sein. Man müsste nur bereit sein, erst mal kurz nachzudenken, bevor man das Maul aufreisst. Könnte ja sein, dass gar nicht alles echt ist, was da so inszeniert wird, gell.