Spielwiese Essen

Für Reto Gassler sind Lebensmittel mehr als bloss Nahrung. Als Fooddesigner kreiert er Ernährungserlebnisse. Ein Trend, der sich auch in der Schweiz etablieren soll.
Text: Andreas Bättig – Fotos: Tina Sturzenegger, z. V. g.
Veröffentlicht: 04.06.2024 | Aus: Salz & Pfeffer 3/2024

«Es hat sofort Klick gemacht.»

«Du sollst nicht mit dem Essen spielen!» Diesen Satz haben wir wohl alle schon zu hören bekommen oder Kinder damit gemassregelt. Doch eben dieses Verpönte ist das Credo des Fooddesigners Reto Gassler. «Meine Leidenschaft und mein Beruf ist es, einzigartige und ganzheitliche Esserlebnisse zu schaffen», sagt der gelernte Koch. «Spielen gehört dazu.»

Was das bedeutet, beschreibt Gassler so: «Essen ist für mich mehr als Nahrung. Ich will damit die Sinne anregen, mit Geschmäckern und Gerüchen, mit Konsistenzen und Farben experimentieren.» Dabei beschränkt er sich nicht auf die Präsentation der Speisen. Gasslers Foodkonzepte sind ganzheitlich gedacht. Besonderen Wert legt er auf Nachhaltigkeit: «Wir sind ursprünglich Jäger und Sammlerinnen, aber wir haben vergessen, was das bedeutet. Viele meiner Arbeiten beschäftigen sich mit der Frage, woher unser Essen kommt», so der 30-Jährige.

Häppchen auf Armierungseisen
Wie der Fooddesigner das konkret umsetzt, zeigte er kürzlich an einem interaktiven Apéro an der Hochschule Luzern. Thema: Food in the City – Szenarien für die Stadt von morgen. Gassler beschäftigte sich in diesem Rahmen damit, woher wir als Gesellschaft kommen und wie sich die Ernährung in den Städten unserer Zukunft verändern wird. Statt fertige Häppchen in den Mund zu schieben, legten die Gäste selbst Hand an und ernteten ihr Essen etwa von Armierungseisen. Aus Resten anderer Gerichte hatte Gassler Burger-Patties kreiert. Diese mussten die Gäste vor einem Spiegel konsumieren, um zu sehen, wer für den ganzen Foodwaste verantwortlich ist. Fermentiertes Gemüse und Insektenzucht dienten ausserdem als Beispiele für alternative Proteinquellen.

Bevor Gassler Fooddesigner wurde, hatte er jahrelang als Koch in verschiedenen Betrieben in der ganzen Schweiz gearbeitet. «Irgendwann musste ich entscheiden, was ich beruflich machen will», erinnert er sich. Durch Zufall sei er auf den Universitätslehrgang Food & Design an der New Design University im österreichischen St. Pölten gestossen (siehe Kasten). «Es hat sofort Klick gemacht. Ich wusste, dass das perfekt zu mir passt», sagt Gassler. Ihm sei in der Küche die Ästhetik beim Anrichten schon immer wichtig gewesen. «Damals ahnte ich noch nicht, dass Fooddesign so viel mehr ist.»

Beziehung zum Essen vertiefen
Tatsächlich aber geht die Disziplin weit über das sogenannte Foodplating, das kunstvolle Anrichten der Speisen auf dem Teller, hinaus. «Fooddesign beschäftigt sich mit der kreativen Auseinandersetzung und Gestaltung von Lebensmitteln und mit allem, was damit zusammenhängt – von der Art und Weise, wie Lebensmittel produziert, verarbeitet und präsentiert werden, bis hin zum Erlebnis des Essens selbst», sagt der Schweizer Lebensmittelsensoriker und Foodjournalist Patrick Zbinden. Fooddesign könne nicht nur ästhetische und funktionale Aspekte von Lebensmitteln verbessern, sondern auch soziale, kulturelle und ökologische Fragen im Zusammenhang mit Lebensmitteln reflektieren. Die Ziele seien: Ästhetik und Präsentation, sensorische Erfahrungen, Innovation und neue Produkte, Markenidentität, Funktionalität und Benutzerfreundlichkeit, Nachhaltigkeit, kulturelle und emotionale Bindungen, Ernährungsbewusstsein, Bildung und Gesundheitsförderung, Experimentieren und Zusammenarbeiten. «Es ist ein spannendes Feld, das ständig neue Lösungen und Ausdrucksformen findet, um unsere Beziehung zu dem, was wir essen, zu verändern und zu vertiefen», so Zbinden.

Diese Vielfältigkeit faszinierte auch Gassler. Also pendelte er drei Semester von Zürich nach Österreich, um sich zum Fooddesigner ausbilden zu lassen. Seine Mitstudierenden stammten aus diversen Bereichen; aus der Grafik oder Mode, aber auch aus der Küche. Es dozierten Multisensorikerinnen, gestandene Designer, Künstler, Architektinnen. «Diese Mischung machte die Ausbildung besonders spannend. Alle brachten ihre Expertise in den Kurs ein und hatten ihre eigene Herangehensweise an das Thema Fooddesign. Wir profitierten enorm voneinander», sagt Gassler.

Kanaldeckel als Tellervorlage
Er selbst beschränkt sich in seinen Entwürfen längst nicht mehr nur auf Lebensmittel. Ihn interessiert neuerdings auch, worauf das Essen präsentiert wird. Konkret: auf Keramiktellern. Doch Gassler wäre kein Fooddesigner, wenn er in seinem Atelier gewöhnliche Teller brennen würde. Stattdessen nahm er in seiner Wohnstadt Zürich Abdrücke von der Oberfläche verschiedener Kanaldeckel, die ihm als Vorlage für seine Teller dienen. «Unter unseren Füssen fliesst das Abwasser, unser Abfall, durch die Kanalisation. Es ist ein geschlossener Kreislauf: Wir essen am Ende wieder von dem, was unter uns durchgeflossen ist. Die Verschmelzung von Ästhetik und Abfall wird hier deutlich», erklärt er.

Dass Gassler für die Ausbildung übrigens extra nach Österreich reisen musste, ist kein Zufall. Denn die Schweiz hinkt in diesem Bereich aktuell hinterher. Länder wie die Niederlande, wo die Fooddesignerin Marije Vogelzang 2016 das Dutch Institute of Food and Design in Eindhoven lancierte und erstmals einen Lehrgang für Fooddesign anbot, sind in diesem Bereich viel weiter. «Die Schweiz braucht immer etwas Zeit, bis sie den Mut hat, sich innovativen Ideen anzuschliessen», sagt Gassler. «Doch auch hier haben wir so viele tolle kreative Leute.» Er ist deshalb überzeugt, dass es in der Schweiz bald einen ersten Studiengang geben wird.

Eine Disziplin am Puls der Zeit
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich Fooddesign als eigenständige Disziplin etabliert, getrieben durch ein steigendes Interesse an der Schnittstelle von Kunst, Design und Wissenschaft. Verschiedene Schulen und Universitäten fingen im Zuge dessen an, spezialisierte Studiengänge anzubieten. «Mit dem wachsenden Bewusstsein für ökologische und gesundheitliche Aspekte begannen Fooddesignerinnen und Fooddesigner, Konzepte zu entwickeln, die Nachhaltigkeit und Innovation in den Vordergrund stellen», sagt dazu der Zürcher Foodjournalist Patrick Zbinden. Technologische Entwicklungen wie der 3D-Druck und die molekulare Gastronomie hätten dabei neue Möglichkeiten für das Design und die Personalisierung von Lebensmitteln eröffnet. Heutzutage umfasse ein modernes Fooddesign ein breites Spektrum von Ansätzen, darunter experimentelle Küche, Kunstinstallationen, die Entwicklung funktionaler Lebensmittel sowie die Schaffung gastronomischer Erlebnisse. Es wird sowohl in der Industrie als auch in der gehobenen Gastronomie und im Bildungsbereich eingesetzt, um nachhaltige, gesunde und kulturell relevante Esserlebnisse zu schaffen.

Die Ausbildung – bald auch in der Schweiz?
Im österreichischen St. Pölten kann Fooddesign im Universitätslehrgang Food & Design an der New Design University studiert werden. Das projektorientierte Studium dauert drei Semester. Kernstück jedes Semesters ist ein Design-Workshop mit dem Ziel, ein essbares Produkt (erstes Semester), ein Esswerkzeug oder -möbel (zweites Semester) sowie ein gastronomisches und/oder nachhaltiges Gesamtkonzept (drittes Semester) zu entwickeln. Nach Abschluss des Lehrgangs können die Absolventinnen und Absolventen beispielsweise in die Tourismusbranche einsteigen und Gesamtkonzepte für zukunftsfähige und innovative Gastronomie- und Hotelbetriebe entwickeln – oder Ideen für die Lebensmittelproduktion entwerfen.

Mitentwickelt wurde der Lehrgang vom Schweizer Lebensmittelsensoriker und Foodjournalisten Patrick Zbinden, der selbst in Österreich unterrichtet. «Das Thema Fooddesign ist für die Gastronomie extrem spannend», ist er überzeugt. Es werde immer wichtiger, sich ganzheitlich mit dem Essen auseinanderzusetzen. «Ich halte es für sinnvoll, wenn Gastronominnen und Gastronomen oder auch Hotelfachleute in diesem Bereich ausgebildet werden.» Deshalb ist Zbinden daran, auch für die Schweiz einen entsprechenden Fooddesignlehrgang zu konzipieren.



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