Ausgefressen

Widerwärtige Scheinmoral

Meine Partnerin Sonja Stummerer und ich beackern seit Jahren das Thema Nachhaltigkeit. Wir sind überzeugt, dass soziale und ökologische Fragen beim Essen heute und beim Essen morgen eine essenzielle Rolle spielen. Die Produktion von Nahrung ver­ ursacht massig Treibhausgase. In jeder Kalorie stecken zum Bei­spiel drei Liter Erdöl. Aber das Essen ist auch ein alltäglicher Aspekt, der im Vergleich zur Mobilität oder zur Architektur relativ schnell und einfach zu verändern ist. Dazu forschen wir. Dazu kreieren wir Ausstellungen und Eat Art Performances, und darüber schreiben wir – auch in diesem Magazin.

Seit ebenso vielen Jahren hören Sonja und ich dasselbe Argument gegen Nachhaltigkeit: Wie sollen sich ärmere Mitmenschen, alleinerziehende Mütter zum Beispiel, das leisten? Bio, so meinen die Skeptiker und Skeptikerinnen, sei viel zu teuer. Fair produ­zierte Lebensmittel könnten die armen Mütter nicht bezahlen. Die ganze Nachhaltigkeit könne nichts anderes als ein etwas naives Konsumverhalten wohlhabender, urbaner Akademikerinnen und Akademiker sein.

Das nervt! Abgesehen davon, dass es schlicht skandalös ist, dass alleinerziehende Mütter in den deutschsprachigen Ländern mit Armut zu kämpfen haben, ist es eine Frechheit, arme Mitmenschen als Erklärung für mangelnden Gestaltungswillen anzuführen. Verlogenen Gerechtigkeitssinn als scheinmoralischen Grund gegen Massnahmen für den Klimaschutz heranzuziehen, ist wider­wärtig. Ebenso scheinheilig ist das Abwälzen jedweder sozialer und ökologischer Verantwortung auf individuelle Konsumenten und Konsumentinnen. Am Ende sollen wir die Klimawende an der Supermarktkasse herbeikonsumieren. Dass der Supermarkt mit Bioprodukten deutlich höhere Margen einfährt als die Bäue­rinnen und Bauern, wird geflissentlich ignoriert.

Wir sind nicht als konsumierende Individuen für die Umwelt­zerstörung oder sklavenartige Arbeitsbedingungen auf südeuro­päischen Obstplantagen verantwortlich. Unser privates Handeln mag im besten Fall von höchsten moralischen Ansprüchen ge­leitet sein, aber Veränderungen können nur passieren, wenn wir uns als politische Akteure und Akteurinnen verstehen. Wir kön­nen uns zum Beispiel dafür einsetzen, dass die Kinder allein­ erziehender Mütter in Kindergärten und Schulen gesundes, hochwertiges und nachhaltiges Essen bekommen. Wir können als politische Subjekte verlangen, dass jedwede Verletzung von Men­schenrechten strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht. Das gilt auch für Unternehmen, die Land rauben, Arbeitsrechte miss­achten oder Lebensraum zerstören.

Und wir können im Arbeitsumfeld für eine gesündere, gerechtere Zukunft sorgen. Auch Gastronominnen und Gastronomen kön­nen sich Gedanken über Nachhaltigkeit machen. Weniger edle, dafür saisonale Zutaten reduzieren den Warenaufwand. Und wer über soziale Gerechtigkeit schwadroniert, kann auch darüber nachdenken, alleinerziehende Mütter aus der Nachbarschaft und deren Kinder einmal pro Woche zum (Bio­)Essen einzuladen.

Martin Hablesreiter

Fooddesigner
Ausgabe: Salz & Pfeffer 3/2022 / Datum: 14.06.2022


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