Anschnitt

Wilde Pandemie im Blattgemüse

Seit einiger Zeit breiten sich Bakterien in Küchen pandemisch aus. Getrieben vom Regionalhype, werden Gemüse rauf-und runterfermentiert und verspeist. Klar, die Kontrolle der Mikroorganismen erwies sich im Laufe der Evolution als der Nutzung des Feuers ebenbürtig. Die Fermentation hilft, Nährstoffe verfügbar zu machen und den Geschmack zu potenzieren. Sauer und umami – Zunge, was begehrst du mehr?

Fermentieren ist denkbar einfach: Gemüse schnippeln, in Gläser oder Fässer stopfen, immer wieder salzen, einigermassen luftdicht verschliessen, mässig warm stellen und schon legen die Milchsäurebakterien los. Aus Zuckern wird Säure, und so manches Enzym zerlegt Proteine. Die von vielen geliebte Geschmacks- und Aromabildung nimmt ihren Lauf.

Mit Gundruk in Nepal oder Sunki in Japan geht manche asiatische Kultur einen Schritt weiter und lässt das Salz weg. Das erlaubt dem Produzenten, seinen eigenen Stempel aufzudrücken. Dafür rupft er Kohl-, Spinat- oder Mangoldblätter in Fetzen, reibt damit Arme, Gesicht und Oberkörper ab und überträgt sein körpereigenes Mikrobiom der Haut auf das Gemüse. Ohne hemmendes Salz tragen auch die «schwächsten» Hefen mit der Bildung von animalischen Verwesungsgerüchen durch Cadaverin und Putrescin (allein die Namen sprechen Bände) zum Flavour bei. Aber keine Angst: Der steigende Säuregehalt bereitet dem Spiel rasch ein Ende, und wie beim Kraut überleben nur die gesündesten Milchsäurebakterien.

Nach einigen Tagen riecht das salzfreie Sauerkraut zwar schweissig und leicht faulig, aber so individuell, dass keiner die persönliche Duftmarke nachahmen kann. Gundruk mag nicht massenkompatibel sein wie Kimchi & Co., ist für die eigene Küche und wenig empfindsame Gäste aber eine Bereicherung.

Thomas Vilgis

Physiker am Max-Planck-Institut für Polymerforschung
Ausgabe: Salz & Pfeffer 1/2021 / Datum: 23.02.2021


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