Die Gastronomie verschläft den Wandel

Während der Konsum von herkömmlichem Bier stetig sinkt, boomen alkoholfreie Varianten. Davon profitiert bislang vor allem der Handel. Höchste Zeit, dass auch die Gastronomie das Potenzial erkennt.
Text: Dominik Flammer: Fotos: Jürg Waldmeier / z. V. g.
Veröffentlicht: 31.08.2021 | Aus: Salz & Pfeffer 4/2021

«Viele haben nicht den Mut, sich mit den Herstellungsprozessen zu beschäftigen.»

Sie heissen Bleifrei, Senza, Freibier oder Lola und kommen längst nicht mehr nur als gängige Lagerbiere daher, sondern auch mal als Coffee Porter, als India Pale oder als Ale, sind mal ober- und mal untergärig, oft kaltgehopft und öfters auch naturtrüb. Oder sie werden mit Ingwer gewürzt oder als Biermischgetränke in Kombination mit Fruchtsäften wie Rhabarber, Birne oder Apfel angeboten. Doch eins haben die Neukreationen gemeinsam: Sie enthalten keinen oder nur wirklich sehr wenig Alkohol. Und sie sind beliebt: Die Nachfrage nach alkoholfreien Bieren steigt stetig, ja, scheint in diesem Sommer im Handel umsatzmässig gar förmlich zu explodieren, beachtet man den Platz, den ihnen der Detailhandel mittlerweile einräumt. Dennoch – und das ist eine weitere Gemeinsamkeit – finden sie in der Gastronomie bis heute kaum Beachtung. Wirtinnen und Wirte scheinen alkoholfreie Biere zu meiden wie der Teufel das Weihwasser.

Die durchwegs konservative Zurückhaltung der Gastronomie erinnert an viele Strömungen und Trends der vergangenen zwei Jahrzehnte, die lange richtiggehend verpennt wurden, während sich diese im Handel mit aller Wucht durchsetzten. Und mit denen Gross- und Kleinverteiler bereits hohe Umsätze erzielen. Beispiele dafür sind vegetarische wie auch vegane Speisen, aber auch Naturweine oder das rasant wachsende Angebot an zuckerarmen Softgetränken. Alles Bereiche, in denen sich die Gastronomie bis heute zu grossen Teilen irrational trotzig verhält. Nach dem Motto: Was ich nicht kenne, hat auch meinen Gast nicht zu interessieren. Oder wie der Wirt in einem Film von Josef Hader: Das ist kein Gast-, sondern ein Wirtshaus.

Auch in der Bierbranche gibt es noch viele Brauer, die sich für alkoholfreie Biere ähnlich wenig erwärmen können wie ein passionierter Radrennfahrer für ein E-Bike. Und die in den sozialen Netzwerken mit schier unbändiger Leidenschaft gegen die mit alkoholfreien Angeboten auftrumpfende Konkurrenz wettern. So wie mancher Fleischliebhaber den Veganismus als Zölibat des Gaumens verteufeln mag, scheinen viele Bierbrauer im alkoholfreien Bier das Zölibat der Leber zu fürchten.

Während die grossen und internationalen Brauereien sich dem Trend längst nicht mehr widersetzen können, bleiben die Kleinbrauereien äusserst zurückhaltend. «Viele haben schlicht nicht den Mut, sich mit den entsprechenden Herstellungsprozessen zu beschäftigen», sagt dazu der Zürcher Getränkeberater Joachim Seewer, der sich mit seiner Zilo GmbH auf die Entwicklung und Optimierung von Produktionsprozessen und die Implementierung neuer Biere und Softgetränke spezialisiert hat. Kleinbrauereien verfügen für das gängigste Verfahren zur Herstellung alkoholfreier Biere oft nicht über die Anlagen und müssen ihr Gebräu einem grösseren Brauer anvertrauen, der diesem den Alkohol entzieht. Dabei gebe es ein viel simpleres und weit kostengünstigeres Verfahren, so Seewer: «Alkoholfreies Bier kann genauso einfach hergestellt werden wie jedes andere Bier.» So nämlich, wie es der Schweizer Brauerei-Verband beschreibt: Bei dieser Variante wird die Gärung vorzeitig gestoppt, indem die Hefe aus der gärenden Bierwürze entfernt wird, oder es wird eine Hefe eingesetzt, die keinen Malzzucker vergärt, sodass die Gärung von alleine stoppt, sobald die wenigen anderen vergärbaren Zucker umgewandelt sind.

Hand in Hand mit der Zurückhaltung der Bierbranche geht auch jene der Gastronomie. Und dies, obwohl der Markt eine klare Sprache spricht. Im Vergleich zum Vorjahr stieg 2020 der Anteil des alkoholfreien Biers am gesamten schweizerischen Bierverbrauch trotz Lockdown und Gastrokrise von 3,7 auf 4,4 Prozent und machte damit seit 2010 den grössten Sprung überhaupt. Eindrücklich ist die Zahl in Litern ausgedrückt: Insgesamt tranken die Schweizerinnen und Schweizer im vergangenen Jahr 15 400 000 Liter alkoholfreies Bier. Und obwohl die Zahlen für das erste Semester 2021 noch fehlen, deutet alles darauf hin, dass das Wachstum exponentiell weiter steigen dürfte. Man schaue sich nur die Angebote der beiden orangen Riesen an, die in grossen Filialen bis zu einem Dutzend alkoholfreier Biere im Sortiment führen. Tendenz auch hier steigend.

Wenn man einen Blick auf die führende Biernation Europas – also Deutschland – wirft, lag dort der Marktanteil von alkoholfreiem Bier im Jahr 2020 bereits bei fast sieben Prozent. Auch erwarten die deutschen Bierbrauer, dass die Zehn-Prozent-Marke schon bald erreicht sein wird. Doch auch hier ist es vor allem der Handel, der 2020 ein Absatzplus von 16,5 Prozent aufweist. In der Gastronomie fliesst das Bier auch in Deutschland noch mehrheitlich als Promilletreiber.

Zu den Vorreitern bei den alkoholfreien Bieren gehört in der Schweiz die seit Jahren für ihre kreative Ader bekannte Appenzeller Brauerei Locher. Nebst dem klassischen Leermond-Bier, mit dem das Unternehmen vor langer Zeit schon eine Marke setzte, führt es inzwischen ausserdem ein alkoholfreies IPA sowie ein alkoholfreies Ginger Beer, ein Zitronenpanaché und das fast schon liebliche Bschorle, ein mit Birnen- und Apfelmost versetztes alkoholfreies Biermischgetränk, im Angebot. Wohlgemerkt: Alles Getränke, die im Handel regelrecht boomen. «Leider gibt es in der Gastronomie nur wenige Leuchttürme, die den Trend erkannt haben, viele sind noch ungemein träge», so das Urteil von Locher-Geschäftsführer Aurèle Meyer.

Den Brauern indes bleibt wenig Spielraum, sie müssen auch aus ökonomischen Gründen auf alkoholfreie Biere setzen. Denn der jährliche Pro-Kopf-Bierkonsum ist in sämtlichen Industrieländern rückläufig. Allein in der Schweiz ist er über die letzten zehn Jahre von 60 auf 52 Liter gesunken. Und fast vier Fünftel des gesamten Biers wird von der Altersgruppe der 20- bis 40-Jährigen getrunken, die wiederum aus demografischen Gründen tendenziell schrumpft. Hinzu kommt, dass Konsumentinnen und Konsumenten mit steigendem Einkommen von Bier auf Wein umsteigen, wenn sie denn schon einmal Alkohol konsumieren.

Eindrücklich ist das Angebot an alkoholfreien Bieren ausgerechnet in jenen Läden, die Wochenende für Wochenende von Jugendlichen überrannt werden, wenn sich diese für ein paar Stunden ins Grossstadtleben stürzen: Rund zwei Dutzend Varianten führt die Kette Drinks of the World im Sortiment. Mit neun Filialen ist sie vor allem an den grossen Schweizer Bahnhöfen vertreten und bietet sowohl heimische Marken als auch verschiedene deutsche Gersten- oder Weizensäfte ohne Alkohol feil – vom Riedenburger Dolden Null über das Paulaner Alkoholfrei bis hin zum Störtebecker Atlantik-Ale.

Ob Liebhaber der alkoholfreien oder der promilleträchtigen Tropfen: Die Frage nach einem alkoholfreien Bier dürfte in der Gastronomie künftig nicht mehr nur mit einem «gerne» quittiert werden. Sondern mit der freundlichen Gegenfrage, ob es denn ein Lagerbier, ein India Pale oder lieber ein Coffee Porter sein dürfe. Sonst läuft die Branche Gefahr, dass die Konsumentinnen und Konsumenten am Ende ihren in Corona-Zeiten antrainierten Gewohnheiten treu bleiben – und den alkoholfreien Tropfen gemeinsam mit Freunden zu weit günstigeren Preisen in der freien Natur geniessen.

Empfehlungen der Biersommelière

Als diplomierte Biersommelière weiss Nadine Degen auch um die Facetten des alkoholfreien Biers. Damit diese künftig auf den Getränkekarten der Schweizer Restaurants ebenfalls zu sehen sind, hat sie für Gastronominnen und Gastronomen ein paar konkrete Tipps mit einer Auswahl an Bieren in petto.

Alkoholfreie Lagerbiere …
sind nicht selten süss – da geht Probieren über Studieren. Auf jeden Fall sollten sie kühl gelagert und in einem schlanken Glas serviert werden.

• Schümli alkoholfrei (Brauerei Felsenau, Bern): Ein ansprechendes goldgelbes Bier, pures Malz in der Nase, feine Kohlensäure, trocken und leicht bitter, unkompliziert im Abgang. Dieses kaum süsse Lagerbier lässt sich gut mit asiatischem Essen oder einer Pizza kombinieren. Es eignet sich auch prima als Durstlöscher auf der Velotour.

• India Pale alkoholfrei (Brauerei Schützengarten, St. Gallen): Die satte Hopfenaromatik in der Nase lässt noch nicht auf ein untergäriges, geschweige denn alkoholfreies Bier schliessen. Harmonisch und prickelnd, die Bitterkeit schön eingebunden, anhaltender (recht bitterer) Abgang. Fazit: gut gelungen! Das alkoholfreie India Pale von Schützengarten passt zu scharf gewürzten, aber nicht zu üppigen Speisen oder eignet sich ganz einfach als Erfrischung.

Weizenbiere …
gibt es vor allem in Deutschland schon lange in alkoholfreien Versionen. Sie eignen sich mit ihrer ausgeprägten Bananen- und Nelkenaromatik bestens dafür. Aber auch die belgische Brauart passt.

• Lola Wit alkoholfrei (Lola, Bern): Trübes Strohgelb, wie es sich gehört. Der Zitrusduft (Orange plus Koriander) belebt beim ersten Einatmen. Fast sämig im Mund, rund, harmonisch, mit einem fruchtigen und leicht bitteren Abgang – wobei die Frische lange erhalten bleibt. Zu diesem Bier passen würzige Speisen oder vielleicht eine Kugel Orangensorbet; auf jeden Fall etwas Leichtes. Empfehlenswert sind auch das IPA und das Coffee Porter aus dem Hause Lola. Einziger Wermutstropfen: Die Berner Marke wird in Deutschland gebraut.

Und sonst?
Die Vielfalt an alkoholfreien Bieren nach Bierstilen ist arg eingeschränkt. Gerade an Bieren, die sich zu kräftigeren Speisen kombinieren lassen, mangelt es oft. Und die regionale oder wenigstens nationale Orientierung ist hier für den Wirt oder die Wirtin eine Herausforderung. Da lohnt es sich, ab und zu einen Blick über die Grenze zu werfen: Neben dem überraschenden Erlebnis für den Gast lassen sich so vielleicht auch die Schweizer Brauerinnen und Brauer zu verwegenen Experimenten motivieren. Brew Dog aus Schottland zum Beispiel brauen schon lange alkoholfreie Biere – und das richtig gut. Unter Biersommeliers hoch geachtet ist auch die Big Drop Brewing Co. aus England.

• Pine Trail Pale Ale (Big Drop Brewing Co.): Die blumig-volle Nase betäubt die Sinne – ein Bier zum Riechen. Hopfiger Zitrus mit kräuselnder Kohlensäure im Mund, feiner leicht bitterer Abgang. Ein überaus harmonisches Bier, von dem man gut und gern auch zwei, drei trinkt. Und es ist sogar glutenfrei – damit schlägt man in der Gastronomie zwei Fliegen mit einer Klappe.

• Galactic Milk Stout (Big Drop Brewing Co.): Endlich: das alkoholfreie Stout! Schwarze Schoggi mit leichter Rauchnote ist eine Kombination, die sich gut inhalieren lässt. Voller, runder Körper, mit Schokolade, Malz, Kaffee und einer ganz leichten Bitterkeit im Abgang. Dazu kann man auch einmal einen Braten servieren.



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