Diven auf der Hirse

Der Pilz ist ein delikates, launisches Geschöpf. Das hält Schweizer Züchter nicht davon ab, in Hallen und Bunkern an neuen, spannenden Sorten zu tüfteln. Die Nachfrage aus der Gastronomie steigt stetig.
Text: Delia Bachmann – Fotos: Stefan Kaiser
Veröffentlicht: 05.02.2018 | Aus: Salz & Pfeffer 1/2018
Marco Mühlemann, Mitgründer der Urbanicum GmbH, bei der Ernte von auf Kaffeesatz gezüchteten Austernpilzen.

«Seit wir am neuen Standort sind, gab es schon drei Einbruchsversuche.»
Die letzte Saison war so ergiebig, dass selbst ungeübte Pilzler nach kurzer Zeit randvolle Körbe aus den Wäldern schleppten. Mit Wildpilzen allein lässt sich die von Jahr zu Jahr steigende Nachfrage allerdings bei weitem nicht stemmen. Zumal der Hunger nach frischen Schwämmen nicht mit dem Herbst vergeht. Und die ewigen Champignons – mit rund 95 Prozent noch immer die wichtigsten Speisepilze der Schweiz – auf Dauer nicht glücklich machen. Die Zucht neuer Sorten liegt auf der Hand, doch der Weg dahin ist kein leichter. Manche Arten lassen sich überhaupt nicht kultivieren, andere entpuppen sich als divenhafte Wesen: Ein Grad oder Lufthauch zu wenig und schon wächst der Pilz nicht mehr so schnell und schön, wie er sollte.

Die Hauptaufgabe des Züchters besteht also darin, seine Pilze zu verstehen. Erst wenn er ihren Charakter, mitsamt allen Schrullen und Allüren, kennt, kann er ein Milieu schaffen, in dem sie optimal gedeihen. Dazu gehören eine auf den Pilz abgestimmte Diät, sprich die Zusammensetzung des Nährbodens, sowie perfekt temperierte, befeuchtete und belüftete Räume. Bis es so weit ist, können gut und gerne 20 Jahre verstreichen. So war es jedenfalls bei Patrick Romanens, Gründer der Fine Funghi AG im zürcherischen Gossau, der in der Schweiz beim Shiitake die Pionierrolle übernahm. Weil der asiatische Würzpilz viel natürliches Glutamat enthält, gilt er als wahre Umami-Bombe.

In China schlugen die Pilzbauern mit Stöcken an die Bäume, um das Wachstum des Shiitakes auszulösen. Bei Romanens geht das wesentlich sanfter durch das Rollen der Pilzwagen: «Feinste Erschütterungen genügen.» Es sind solche Eigenheiten, welche die Zucht des einen Pilzes vom anderen unterscheiden. Das Prinzip bleibt jedoch dasselbe (siehe Box). Gerade beim Kräuterseitling, der punkto Popularität am meisten zugelegt hat, seien die Erträge anfangs miserabel gewesen: «Ich musste viel üben und zweimal nach Asien reisen, um herauszufinden, was ich falsch mache.»

Mittlerweile weiss Romanens den Pilz richtig zu hätscheln: «Ich massiere das Myzel an der Oberfläche des Substrats, das steigert den Ertrag um 20 Prozent.» Der feinwürzige Kräuterseitling erinnert optisch an Steinpilze, seine Beliebtheit hat aber einen anderen Grund: «Er ist eine gute Wahl für alle, die das Schlabberige der Pilze nicht mögen.» Der Pilz bleibt lange frisch und beim Kochen fest. In Scheiben geschnitten kann er wie ein Stück Fleisch zubereitet werden. Als Ersatz taugt er indes nur bedingt: «Um auf dieselbe Menge Protein zu kommen, muss man sehr viel davon essen.»

Mit dem nussigen Pioppino nahm Patrick Romanens vor zwei Jahren eine neue Sorte in Zucht: «Die ersten zwei Jahre kosten Geld, das gehört dazu. Die Zucht lohnt sich, wenn man pro Woche ein paar 100 Kilo verkaufen kann.» Nicht zuletzt dank Tipps von der Konkurrenz vervierfachte sich der Ertrag beim Pioppino: «Niemand sagt alles, doch mit der Summe des Bisschen kommt man weiter.»

Zu den Stammkunden zählt das Restaurant Jakob in Rapperswil, das von Gault & Millau mit 15 Punkten bewertet und zur Entdeckung des Jahres 2018 gekürt wurde: «Als strikt regionales Restaurant sind wir auf die Pilze aus Biozucht angewiesen», sagt Küchenchef Markus Burkhard. Für einen aktuellen Gang mit Kräuterseitling, Sellerie und Eigelb confiert er den Pilz in Rapsöl und schneidet ihn zu einem Carpaccio auf. Generell hat Neues auf dem Markt jedoch einen schweren Stand. Wegen des Was-der-Bauer-nicht-kennt-Problems verkauft Romanens die neue Sorte in gemischten Schalen.

Sepp Häcki von der Kernser Edelpilze GmbH kennt die Schwierigkeit. Nichtsdestotrotz ist er entschlossen, jede Saison eine neue Sorte zu lancieren. Die Enoki-Episode zeigt, dass sich selbst ein Aufwand von 15 Jahren lohnen kann: Letzten Sommer brachte Häcki die ersten Enoki aus europäischer Zucht auf den Markt. Der feine, langstielige und nach Orange duftende Pilz, der häufig roh auf Salat serviert wird, sorgte nicht nur an Fachkongressen für Aufregung: «In der Gastronomie ist der Enoki ein Renner, der Absatz hat sich in drei Monaten verzwanzigfacht.»

Ebenfalls sehr gut laufe der Pom Pom Frisé. Ein Pilz, der aussieht wie eine Koralle und zu den natürlichen Lebensmitteln mit den meisten Aromastoffen zählt. Beim Kochen fällt er allerdings etwas zusammen und verfärbt sich gelblich. Seit zehn Jahren züchtet Häcki zudem den kompakten und etwas schleimigen Nameko, der in Misosuppen oder Nudelgerichten gut aufgehoben ist: «Es gibt einen Trend zu ganzen Pilzen im Gericht.»

Sepp Häcki in seiner Kernser Edelpilze GmbH
Der Nameko, auch japanisches Stockschwämmchen, hat ein leichtes Nussaroma und wird beim Kochen etwas schleimig. Gut zur Geltung kommt er in Misosuppen oder asiatischen Nudelgerichten.
Der Shiitake gilt als wahre Umami-Bombe. Um seinen intensiven Geschmack nicht zu verwässern, sollte aufs Waschen verzichtet werden.
Der Enoki oder auch Samtfussrübling wird häufig roh auf Salaten serviert. Je mehr Licht er in der Zucht bekommt, desto grösser wird sein Hut und desto intensiver sein Orangenaroma.
Der Pom Pom Frisé, auch bekannt unter dem Namen Ästiger Igelstachelbart, gehört zu den natürlichen Lebensmitteln mit den meisten Aromastoffen.
Der Kräuterseitling (links) überzeugt mit einem feinwürzigen Aroma sowie einer festen, fleischigen Konsistenz. Seine wilden Verwandten haben mehr Hut und weniger Stiel. Wegen seines Aromas wird der Austernseitling (rechts) auch Kalbfleischpilz genannt. Mit ihm verwandt sind der Rosen- und der Limonenseitling, deren attraktives Rosa respektive Gelb beim Braten allerdings verloren geht.
Sepp Häcki
Marco Mühlemann

Der Pilz mag ein landwirtschaftliches Produkt sein, doch die Firma von Sepp Häcki und seinem Sohn Patrick ist spätestens seit dem Umzug vom einstigen Schweinestall in einen ultramodernen Neubau vor einem Jahr kein Bauernhof mehr. In den mit Sensoren gespickten Räumen stehen die Rollwagen in Reih und Glied. Neben jeder Tür informiert ein Display in Echtzeit über Temperatur, Luftfeuchtigkeit und -geschwindigkeit, Stickstoff- und CO2-Gehalt.

So schön die Pilzräume sind, das Herzstück des Betriebs liegt einen Stock tiefer: Die vollautomatische Substratmaschine machte die Firma auf dem Weltmarkt zum Technologieführer. Vater und Sohn entwickelten sie, weil sie mit dem zugekauften Substrat nicht zufrieden waren. Heute exportiert der Obwaldner Familienbetrieb nach ganz Europa. Mit dem Erfolg kam die Anerkennung: «Vorher sind wir jahrelang als Bastler ausgelacht worden.» Die Bekanntheit in der Branche hat aber auch ihre Schattenseiten: «Seit wir am neuen Standort sind, gab es schon drei Einbruchsversuche.»

Dass er sich heute einen Kopf wegen Technologiedieben machen muss, hätte Sepp Häcki in den Neunzigern wohl nicht für möglich gehalten. Die verschärfte Gewässerschutzverordnung zwang den damaligen Schweinezüchter, sich beruflich neu zu orientieren. Wachteln und Goldfische standen ebenfalls zur Debatte – Edelpilze sind es geworden.

Er startete 1996 und erlebte so die Professionalisierung der jungen Branche hautnah mit: «Am Anfang waren viele Alternative mit Rastazöpfen dabei, die Methoden steinzeitlich.» Häcki stellt so manches Züchterdogma in Frage, und das durchaus auch selbstkritisch: «Früher hatten wir zwei, drei Mitarbeiter, die nur damit beschäftigt waren, mit Brettern auf Blöcke zu hauen.» Heute produziert er die zwei Tonnen Shiitake-Pilze pro Woche gewaltfrei: «Wenn im Prozess alles stimmt, geht es auch ohne.»

Mittlerweile steht, angetrieben von der Idee einer perfekten Kreislaufwirtschaft, bereits die nächste Züchtergeneration in den Startlöchern. Alleine im letzten Jahr wurden in der Schweiz mindestens drei Firmen gegründet, die Austernseitlinge auf Kaffeesatz züchten. Eine von ihnen, die Urbanicum GmbH von Marco Mühlemann und Serap Ayhan, kultiviert die geschmacklich an Kalbfleisch erinnernden Pilze vorübergehend in einem Zivilschutzbunker unter dem Zürcher Escher-Wyss-Platz.

Inspiriert von Projekten in Paris und Berlin, aber auch schockiert darüber, dass in der Schweiz täglich tonnenweise Kaffeesatz – wenn überhaupt – auf dem Kompost landet, begannen die Gründer vor zwei Jahren mit ersten Tests: «Damals wussten wir noch nicht, was das für ein Aufwand ist», so Mühlemann. Nötig waren mehrere Versuchsreihen: «Da Kaffeesatz eher auf der sauren Seite ist, geben wir Kalk bei.» Der vom Velokurier eingesammelte Rohstoff hat aber auch Vorteile: «Durch das Brühen ist er bereits steril, muss jedoch innerhalb eines Tages verarbeitet werden.»

Die Stadtzürcher Läden und Restaurants, die «Escherpilze» kaufen, schätzen die schnelle Auslieferung per Kurier, aber auch die Sonderwünsche, die das Start-up erfüllt: «Für das Park Hyatt ernten wir die Pilze relativ früh und als Büschel.» Genau so werden sie von Frank Widmer, Executive Chef, im Holzofen geröstet und zu Quinoa serviert. Mit 30 bis 45 Kilo pro Woche ist die Ernte noch sehr bescheiden, was sich jedoch bald ändern soll: «Wir sind derzeit auf der Suche nach Investoren, um unsere Produktion auszuweiten», sagt Mühlemann. Das abgeerntete Substrat geht wie auch bei Romanens und Häcki zurück in den Boden, bei Letzteren in die Beerenzucht. Damit schliesst sich der Kreis.

Fine Funghi AG
Tannenbergstrasse 17, 8625 Gossau
044 975 16 70
www.biopilz.ch

Kernser Edelpilze GmbH

Stanserstrasse 50, 6064 Kerns
041 660 49 49
www.kernser-edelpilze.ch

Urbanicum GmbH

Hardstrasse 301, 8005 Zürich
www.stockundhut.ch

Schweizer Edelpilze
Die Pilzverbände des deutschsprachigen Raumes haben sich auf den Begriff Edelpilze als Ersatz für Exotenpilze geeinigt. Gemeint sind alle Zuchtpilze, die keine Champignons sind. Während die Pilzzucht in Asien eine jahrtausendealte Tradition hat, ist sie in Europa vergleichsweise jung und begann, wenig überraschend, mit dem lichtscheuen Champignon. Erstmals kultiviert wurde dieser am Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Die Pilzzucht gehört zu den einträglichsten Zweigen der Schweizer Landwirtschaft – es gibt weder Subventionen noch Grenzschutz. Gezüchtet werden die Edelpilze mehrheitlich in geschlossenen Produktionsanlagen, es gibt aber auch einige wenige aus Freilandkulturen. Alle Schweizer Edelpilze stammen aus biologischem Anbau, bei den Champignons, die rund 95 Prozent der Zuchtpilze ausmachen, ist es hingegen eine Minderheit.

Vom Substrat zur Ernte
Die Pilzzucht beginnt mit der Mischung des Nährbodens. Das sogenannte Substrat besteht in der Regel aus Holzspänen, Getreide und Pflanzenfasern. Es wird mit Dampf sterilisiert und danach mit der Pilzbrut – also mit Sporen «beimpften» Körnern – in Säcke abgefüllt. Diese sind so konstruiert, dass der Pilz atmen kann und gleichzeitig vor Schimmelbefall geschützt ist. Überall dort, wo die Roggen-, Weizen- oder Hirsekörner sitzen, werden nach einigen Tagen erste «Wattebäuschel» sichtbar. Bis das sogenannte Myzel den gesamten Block durchwachsen und komplett weiss gefärbt hat, vergehen einige Wochen. Danach sind Schimmelsporen keine Gefahr mehr, und die Säcke können geöffnet werden. Je nach Pilzart wird das Wachstum der essbaren Fruchtkörper unterschiedlich, meist jedoch mit Kälte oder Licht ausgelöst. Beim Austernseitling oder beim Pioppino werden lediglich Schlitze ins Plastik geschnitten. So wachsen statt zahllosen kleinen und deshalb unverkäuflichen Pilzen schöne und grosse Exemplare.



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