Unginierte Swissness

Einige Jahre galt Gin als hippste Spirituose Europas. Weil der Kräuterschnaps allerdings im Mainstream angekommen ist, wird es Zeit, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren.
Text: Wolfgang Fassbender – Fotos: Tina Sturzenegger
Veröffentlicht: 08.05.2018 | Aus: Salz & Pfeffer 3/2018

Beim Gin geht es um Komplexität, Intensität und Nachhaltigkeit», sagt Christine Brugger, Gin-Macherin aus Friedrichshafen am Bodensee, Wahl-Zürcherin, Sensorikerin und Berufsperfektionistin. Eine Aussage, die vermutlich jeder Brenner dieser Welt unterschreiben würde. Leider wohl auch der, dem es gar nicht um Qualität geht, sondern der in den vergangenen Jahren einfach mal angefangen hat, den schnellen Franken zu machen.

War ja auch allzu einfach, irgendwelchen Grundschnaps mit ein paar Kräutern und Gewürzen, den sogenannten Botanicals, zu mischen, alles nochmals zu destillieren und das Ergebnis in schicke Flaschen zu füllen. Anders als bei Kirschwasser und Malt Whisky braucht der gewiefte Marketingfuzzi für einen coolen Gin weder Hochstammbäume noch Geduld und alte Fässer. Eigentlich genügen schon eine Geschichte, eine Verkaufsstrategie und ein paar gute Grafiker fürs Etikett. Notfalls erfinde man noch allerlei Brimborium, verarbeite Trüffel in den Schnaps, füge Blattgold hinzu oder setze auf Farbe. Ob das alles wirklich zusammenpasst oder einfach nur penetrant schmeckt, interessiert ja doch nur wenige. Ein bisschen Tonic Water dazu, reichlich Eiswürfel hinein und ein Thymianzweig on top – fertig ist der Mixdrink für Millennials. Es soll Hotels geben, die so was sogar zum Burger empfehlen und damit nur beweisen, dass ihnen kein gutes Konzept einfällt.

Zum Thema Tonic später mehr. Erst mal zu denen, die sich Gedanken und Sorgen machen. Und dazu, wo man sich beraten lassen kann zu den guten und den albernen Gins. Christine Brugger am Bodensee, die ihren Organic Gin in zwei Varianten produziert: Ginn und Ginnie. Nur mit Botanicals aus kontrolliert biologischem Anbau. Ersterer eher harzig-würzig mit Noten von Zitrus und Rosmarin. Männlich sagen alle, die sich in Genderfragen klar positionieren. Der andere angeblich feminin, auf jeden Fall duftig, fein, elegant, mit Spuren von Jasmin und Engelwurz. Passt alles gut zusammen, ohne beliebig zu wirken. Hat einen langen Abgang, würden Weinkenner ergänzen. Und hat ausserdem das, was die Verbraucher begeistert: den regionalen Touch.

Wer sich informieren will, was in der Schweiz und in der näheren Umgebung hergestellt wird, muss allerdings gar nicht Seen, Berge und Täler abklappern, sondern kann einfach in die 4 Tiere gehen, die Gin-Bar par excellence von Zürich – nein, der Schweiz. Andreas Kloke, der geschäftsführende Barkeeper, hat sage und schreibe 330 Gins gesammelt und weiss, dass man die Frage nach dem Trend zum Gin nicht eindeutig beantworten kann. Wer in die Zürcher Spezialdestination kommt, schwimmt ja eh nicht auf der Welle des Angesagten. Schweizer Produkte und hochwertige Waren laufen, im Unterschied zum internationalen Mainstream-Gin, gerade bombig.

Die Schweiz und der Wacholder
Hohen Wert hat auch der Schnaps aus Graubünden. Breil Pur nennt er sich und ist erst seit ein paar Jahren zu haben. «Mein Geschäftspartner Gustav Inglin und ich haben als Quereinsteiger in Zusammenarbeit mit dem englischen ‹Gin-Papst› Dr. David Clutton drei traditionelle Gin-Produkte auf dem schweizerischen Markt lanciert», erläutert Co-Erfinder Beat Sidler. Vor vier Jahren erblickte der London Dry Gin unter der Marke Breil Pur das Licht der Bergwelt, seit November 2014 ist zudem der erste Sloe Gin der Schweiz zu haben.

Wer in diesem nur einen Fruchtlikör sähe, läge freilich falsch. Rein biologisch und auf der Basis von Alpenwacholder, Alpenrosen (aus Brigels, von Hand gepflückt!) und Schokoladenminze (aus dem Tessin) gemacht. Weil in der Nähe von Brigels handwerklich gebrannt, weil jede Flasche von Hand gefüllt und einzeln nummeriert wird, rangieren die Preise deutlich über den Tarifen, die Standard-Gin aus dem Supermarkt kostet. Ist den Leuten aber egal. Und wenn ein bisschen Süsse im Gin zu schmecken ist, stört das ebenfalls niemanden.

Dass man die Frage nach dem Trend zum Gin nicht eindeutig beantworten kann, weiss er nur zu gut: Andreas Kloke, Geschäftsführer der Zürcher Bar 4 Tiere.

Der neuste Renner der Gin-Szene nennt sich nämlich Old Tom Gin, galt bis vor Kurzem noch als Auslaufmodell mit dem Charme von Nierentischen und Riz Casimir, ist jetzt aber trendy wie Pop-up-Restaurants. Seit 2016 ist der Old Tom in Beat Sidlers Unternehmen zu bekommen und auch anderswo ein Insidertipp. Bei Saverio Friedli zum Beispiel, in der seit 1883 existierenden Brennerei Studer in Escholzmatt, werden die Kunden mit vier Sorten Wacholderschnaps begeistert.

«Die Verkäufe entwickeln sich speziell beim Gin steil nach oben», freut sich Friedli und weist darauf hin, dass sein Highland Gin keine moderne Entwicklung sei, sondern nach einem Originalrezept von 1888 erzeugt werde. An seinem Old Tom Gin kann man zudem ablesen, dass die zarte Frucht handgepflückter Brombeeren durchaus mit herber Gin-Würze harmoniert. Und mit den geheimen Wünschen all jener, die sich bislang nie trauten, öffentlich Schnaps mit einem Hauch von Süsse zu vertilgen. Steht jedoch Gin auf dem Label, ist die Absolution inklusive.

Apéro oder Speisenbegleiter
Je mehr Schlehen, Brombeeren oder süffige Süsse, desto besser klappt auch das Zusammenspiel mit dem Essen. Es sollte ja niemand auf die Idee kommen, dass Gin nur als Apéro tauge. Sloe Gin zum Dessert auf Basis von Früchten? Oder ein London Dry zum Fisch in Vermouth-Sauce? Sollte man ausprobieren. Und da wären ja noch, als klitzekleines, feines, verschwiegenes Segment im gewaltigen Gin-Markt, die gereiften Schnäpse, nach Vorbild der Whisky- und Rum-Produktion in Fässern veredelt. In Schottland gebe es einen, der fast 20 Jahre im Holz zugebracht habe, raunen einem bei der Recherche die Eingeweihten zu.

Einfacher zu bekommen und billiger ist da ein Colombian Aged Gin, in Rumfässern zur Geltung gebracht, oder eine Rarität aus Winterthur. Die Draft Brothers haben sich hier auf die etwas anderen Brände spezialisiert, füllen Gin ab, der Wacholderwürze mit einem Schuss Holzcharakter verbindet. Noch begehrter soll nur der hiesige Erdbeer-Gin sein, ein streng limitiertes Produkt auf Basis von Schweizer Früchten. Im Frühjahr wolle man, heisst es aus der Schnapsschmiede, wieder mit der Produktion beginnen. Und schon sieht man sie vor dem geistigen Auge, die Zürcher Hipster, die im kommenden Sommer unginiert am Erdbeerschnaps nippen.

Bleibt die Frage, wie man ihn denn nun am besten trinkt, den Gin. Mit Tonic Water kann man ihn tatsächlich zu einer erfrischenden Delikatesse aufmöbeln – vorausgesetzt, der Zusatz stammt nicht von den grossen, Langeweile produzierenden Limonadenherstellern. Wer industrielle Belanglosigkeit in seinen Gin kippt, wird in der Szene mit Missachtung bestraft. Fentimans oder Indi & Co. gelten dagegen als Tonic-Marken für Kenner, nach dem in Deutschland erfundenen Doctor Polidori’s Dry Tonic Water lecken sich alle die Finger.

Wer in der Schweiz bleiben will, greift am besten zur Marke Gents. Deren Erfinder Hans Georg Hildebrandt empfiehlt das Gents Tonic zu allen Gins ausser zu den extrem floralen und rät bei Old Tom Gin gar zum Gents Extra Dry. An Christine Brugger dürfte allerdings keiner der Tonic-Hersteller Freude gewinnen. Denn die Sensorikerin trinkt erstklassige Brände gern ohne alles. «Ich schätze hochwertigen Gin am liebsten pur», sagt die Brennerin vom Bodensee und verweist auf übliche Sitten der Weinbranche. «Schliesslich geniesse ich einen grossen Burgunder ja auch nicht als Schorle.»

Gin oder wie?
Botanicals:
pflanzliche Aromastoffe
London Dry Gin: hochwertiger trockener Gin, muss nicht in England gebrannt werden
New Western Dry Gin: hier steht weniger der Wacholdergeschmack im Zentrum
Aged Gin: fassgereifter Gin, gilt als absolute Rarität
Sloe Gin: traditionelles Produkt aus Gin und Schlehen, niedrig im Alkohol
Old Tom Gin: mehr oder weniger gesüsster Gin, lange Zeit aus der Mode, jetzt wieder in selbiger

Höchst empfehlenswerte Gins
Duftiger Mix mit herber Schlehenwürze und langem Nachhall: Breil Pur Sloe Gin
CHF 74.– bei Breil Pur, www.breilpur.ch
Ausnahme-Gin mit floraler Aromatik und einem Hauch von Weihnachten im Nachhall: Ginnie EUR 115 (0,5 l) bei Organic Distillery, www.organic-distillery.com
Überraschend harmonischer fassgereifter Gin mit feiner Wacholderwürze: Wood’n Gin CHF 66.– (0,5 l) bei den Draft Brothers, www.draftbrothers.ch
Wacholder, etwas Zitrus und verführerische Brombeere: Studer’s Swiss Highland Old Tom Gin CHF 46.50 bei Studer & Co. AG, www.distillery.ch
Wacholder trifft Erdbeere: Ginuine Gin Strawberry CHF 49.– bei Lateltin AG, www.topofdrinks.ch
Komplexer Gin aus der Bourgogne mit Zitrusnoten, tiefgründiger Würze und einer Spur Safran: Boudier Saffron Gin – CHF 36.90 bei Manor, www.manor.ch



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